Die Schweiz ist auf der Suche nach einer neuen Auslegung ihrer Neutralität. Der internationale Vergleich zeigt: Neutralität hat viele Gesichter.

Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine fordert Russland bei Friedensverhandlungen, dass die Ukraine neutral wird. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wäre damit vom Tisch.

Laut dem Neutralitätsforscher Pascal Lottaz geht es bei diesem Vorschlag um eine Neutralisierung der Ukraine. "Ähnlich ist es der Schweiz 1815 ergangen, mit dem Unterschied, dass die Schweiz das damals aktiv suchte."

Aus nachvollziehbaren Gründen verlangt die Ukraine bei den Verhandlungen über eine allfällige Neutralität aber Sicherheitsgarantien durch andere Länder, bevorzugt durch NATO-Staaten. "An diesem Punkt gingen die Verhandlungen nicht weiter. Russland will das nicht, denn das wäre gleichbedeutend mit einem NATO-Beitritt", so Lottaz.

Die Schweiz hat bei den Verhandlungen 1815 keine militärische Schutzmacht bekommen, sie ist auch nicht Mitglied der NATO, sondern muss selbst für ihre Sicherheit sorgen.

Dies zeigt bereits: Neutralität hat viele Gesichter. Staaten und Organisationen wie das IKRK oder die UNO gestalten sie auf unterschiedliche Weise. Und es gibt eine selbstgewählte oder eine von aussen aufgezwungene Neutralität. Grossmächte hatten immer wieder Interesse an neutralen Staaten als Puffer zwischen wichtigen Einflusszonen.

Die meisten neutralen Staaten sind stark bewaffnet, um sich verteidigen und den Durchzug fremder Truppen verhindern zu können. Länder wie Costa Rica, Liechtenstein oder der Vatikan kennen hingegen eine unbewaffnete Neutralität, sie verzichten auf eine Armee. Costa Rica vertraut auf den Schutz durch die USA, Liechtenstein zählt gewissermassen auf die Schweiz und der Vatikan ist ohnehin ein Sonderfall.

Es gibt Staaten, welche die Neutralität nutzen, um sich abzukapseln. Turkmenistan etwa, eine totalitäre Diktatur, hat sich die Neutralität gross auf die Fahne geschrieben, um sich zu isolieren. "Turkmenistan verwendet die Neutralität dazu, um sich aus internationalen Gremien rauszuhalten, damit sich niemand in die inneren Angelegenheiten einmischt", urteilt Lottaz. Ähnlich gehalten hätten es Myanmar bis vor zehn Jahren oder Albanien während des Kalten Krieges.

Andere Staaten, allen voran die Schweiz, Österreich sowie früher Schweden und Finnland, nutzen die Neutralität, um sich auf dem internationalen Parkett einzubringen und ihre Guten Dienste anzupreisen. Sie pflegen laut Lottaz einen integrativen Ansatz. "Schweden und Finnland bezeichnen sich allerdings schon länger nicht mehr als neutral, sondern als bündnisfrei und sogar das wollen sie jetzt mit dem NATO-Beitritt aufgeben", sagt Lottaz.

Lottaz hält dies für eine Eskalation des Konflikts, was der Stabilität auf dem Kontinent Europa abträglich sei. Der Neutralitätsforscher findet es zwar gut, dass die Debatte über die Neutralität international und national neu geführt wird. Er hofft aber, dass möglichst viele Länder neutral bleiben, weil das Konflikte entschärfe. "Der Tenor im Moment ist jedoch gegen die Neutralität. Gerade im Westen wird etwa die Schweizer Neutralität als Russland helfend wahrgenommen und damit als moralisch verwerflich."

Manche Analyst:innen und Politiker:innen sprechen von einer Zeitenwende, andere von einem neuen Kalten Krieg. Damit könnte die Bewegung der Blockfreien Staaten ein Revival erleben, zu denen im Übrigen auf Druck Russlands von 2010 bis 2014 auch die Ukraine gehörte. Diese internationale Organisation wurde während des ersten Kalten Krieges auf Initiative von Ägypten, Indien und Jugoslawien gegründet und umfasste Länder vor allem aus Asien und Afrika, die sich im Ost-West-Konflikt neutral verhielten und keinem der beiden Militärblöcke angehörten. Nach 1989 verlor die Institution an Bedeutung. "Ähnlich wie sich die NATO durch den Ukraine-Krieg neu erfunden hat, könnte das Bündnis blockfreier Staaten saniert werden, weil das Forum wieder Sinn macht", sagt Lottaz. "Die Dynamik ist wieder da." So haben China, Indien, Indonesien, Ghana und südamerikanische Staaten bei den aktuellen Sanktionen gegen Russland nicht mitgemacht.

Indien und China verfolgen im Ukraine-Krieg eine situative Neutralität, auch wenn sie den Begriff offiziell nicht verwenden; sie halten sich aus diesem Konflikt raus. Im Unterschied zu Staaten mit einer dauernden Neutralität wie der Schweiz versprechen sie damit aber nicht, immer neutral zu sein.

Dieses Verhalten ist vergleichbar mit dem Isolationismus der USA zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, damals sprach man von Neutralismus, der bekanntlich mit einem Kriegseintritt der USA beendet wurde. Davor waren die USA 150 Jahre lang neutral gegenüber europäischen Kriegen gewesen. "Die USA des 19. Jahrhunderts kann man mit dem heutigen China vergleichen", sagt Neutralitätsforscher Lottaz. China versuche nicht, militärische Allianzen zu schmieden. Auch sei China alles andere als glücklich über den Ukraine-Krieg. China wolle in keinen Krieg verwickelt sein. "Nur beim Streit um Taiwan, da wäre China bereit, einen Krieg zu führen."

Auch in Österreich hat sich die Auffassung, was Neutralität bedeutet, über die Zeit verändert. Nicht zuletzt der EU-Beitritt hat zu einem dynamischeren Begriffsverständnis geführt. "Wirtschaftssanktionen sind für Österreich kein Problem, weil die Neutralität rein militärisch ist", sagt Sicherheitsforscherin und Völkerrechtlerin Elisabeth Hoffberger-Pippan vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin. Die EU hat aber auch entschieden, die Ukraine militärisch zu unterstützen. "In solch einem Fall nützt Österreich das Konzept der 'konstruktiven Enthaltung'. Es stimmt selbst nicht aktiv mit, verhindert aber auch nicht das Zustandekommen des jeweiligen Beschlusses."

Dass Österreich in internationale Organisationen wie die EU eingebunden ist, sorgt immer wieder für Reibungspunkte, auch wenn laut der österreichischen Regierung die Teilnahme an internationalen Gremien mit der Neutralität vereinbar ist.

Laut Hoffberger-Pippan ist es wichtig, dass die EU auf die Besonderheiten neutraler Staaten eingeht und Rücksicht nimmt. Die EU hat sich in den Verträgen dazu auch explizit verpflichtet.

Anders als die Schweiz lässt Österreich Überflüge von NATO-Flugzeugen immer wieder zu, obgleich dies nach traditioneller Rechtsauffassung mit der Neutralität schwer vereinbar ist. "Es gibt keinen internationalen Aufschrei", so Hoffberger-Pippan. Man sei vom klassischen Verständnis ohne grosses Aufheben abgewichen. Österreich argumentiert, dass keine Verletzung der Neutralität vorliegt, wenn NATO-Flugzeuge österreichisches Territorium überfliegen, weil die Flüge bislang keine Waffen in Kriegsgebiete liefern, sondern in andere NATO-Staaten.

Hin und wieder wird der schwache Zustand der österreichischen Armee kritisiert. Aus dem Neutralitätsrecht leitet sich ab, dass bewaffnete neutrale Staaten wehrfähig sein müssen, damit sie den Durchzug fremder Truppen verhindern oder einen Angriff abwehren können. "Österreich verlässt sich auf andere Staaten der EU und der NATO", so Hoffberger-Pippan. Wenn Österreich angegriffen würde, kann es sich auf die Solidarität der EU verlassen. Vor allem EU-Staaten, die gleichzeitig NATO-Partner sind, verfügen über beträchtliche militärische Ressourcen und würden Österreich militärisch zu Hilfe kommen.

Würde hingegen beispielsweise Frankreich angegriffen, so würde Österreich aufgrund der Neutralität keine Truppen schicken, um Frankreich bei Kampfhandlungen zu helfen, sondern es würde sich mit anderen Mitteln solidarisch zeigen. Ähnlich wie die Schweiz wird Österreich deshalb des Trittbrettfahrens bezichtigt. "Österreich will ein Stück vom Kuchen haben, aber beim Backen nicht dabei sein", fasst Hoffberger-Pippan die gängige Kritik zusammen.

Im Unterschied zur Schweiz, wo eine lebendige Debatte geführt wird, will sich in Österreich – mit einer Ausnahme – keine Partei mit der Neutralität befassen, laut Hoffberger-Pippan wären damit keine Lorbeeren zu holen. Die Neutralität ist fester Bestandteil der politischen Kultur und seit Jahren Handlungsmaxime der österreichischen Aussen- und Sicherheitspolitik. Nur die liberale "NEOS – Das Neue Österreich" wagt sich an das Thema Neutralität und fordert eine Diskussion über alle Optionen, darunter eine EU-Armee.

Laut Lottaz waren Grossmächte immer mal wieder situativ neutral. Die Haager Konventionen seien für sie geschrieben worden, nicht so sehr für kleine Neutrale wie die Schweiz oder Österreich. "Das Neutralitätsrecht ist aus diesem Grund sehr liberal, so dürfen Neutrale beispielsweise mit Waffen handeln, sofern sie die kriegsführenden Parteien gleichbehandeln." Die Haager Übereinkommen sind laut Lottaz veraltet, sie wurden seit 1907 nur sporadisch aufdatiert. Der Cyberspace und Raketen sind im Neutralitätsrecht nicht geregelt, weil es das damals noch nicht gab. "Die Abkommen müssen aufdatiert werden, um die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts zu spiegeln", so Lottaz.

Schweizer Neutralität immer schon formbar

Laut der Sicherheitsforscherin Lea Schaad wissen viele Leute in der Schweiz nicht, dass es einen erheblichen Unterschied gibt zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik. Während das internationale Neutralitätsrecht gemäss Haager Übereinkommen statisch vorsieht, dass neutrale Länder sich nicht an militärischen Konflikten beteiligen, zielt die freiwillige Neutralitätspolitik darauf ab, andere Länder davon zu überzeugen, dass man sich im Fall eines Krieges raushalten würde, und ist entsprechend flexibler.

Laut Schaad hat die Schweiz die Neutralitätspolitik bewusst nicht in die Verfassung geschrieben, damit man sie je nach Situation anders auslegen kann. "Im Kalten Krieg war die Schweiz strikt. Danach legte sie ihre Neutralität unter der damaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey aktiver aus." So hat die Schweiz seit dem Ende des Kalten Krieges regelmässig wirtschaftliche Sanktionen übernommen.

Auch Lottaz nennt Beispiele für den schweizerischen Schlingerkurs: Als die Schweiz in der Zwischenkriegszeit Mitglied des Völkerbundes war, verfolgte sie eine "differenzielle Neutralität" und nahm, wenn nicht an militärischen, so doch an wirtschaftlichen Sanktionen teil. Doch bereits beim Angriff Italiens auf Äthiopien 1935 konnte die Schweiz diesen Kurs nicht durchhalten, weil aufgrund der Wirtschaftssanktionen gegen Italien das Tessin abgeschnitten war, also ging sie zurück zur integralen Neutralität.

Neuinterpretierung der Schweizer Neutralität

Laut Schaad wird es jetzt richtig spannend, denn der amtierende Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis hat Ende Mai am Weltwirtschafts-Forum mit der Wortschöpfung "kooperative Neutralität" für Aufsehen gesorgt. Laut dem Neutralitätsforscher Pascal Lottaz handelt es sich bei Wortschöpfungen wie 'Aktive Neutralität', 'Engagierte Neutralität' oder jüngst 'Kooperative Neutralität' um politische Begriffe, die erfunden wurden, um die Neutralität neu zu verpacken. Das versteht Schaad ähnlich: "Möglicherweise war das der Anfang eines neuen Framings, wie Cassis die Neutralität interpretieren wird."

Gerade diese Formbarkeit der Neutralitätspolitik führt laut den beiden Forschenden aber auch zu den immer gleichen Diskussionen zwischen denselben Fronten: Auf der einen Seite fordern jene mit einem strikten Verständnis der Neutralität, dass die Schweiz kriegsführende Parteien sowohl militärisch als auch wirtschaftlich gleichbehandeln soll, was Sanktionen ausschliesst. "Heute sind wir wieder an einem Punkt, an dem manche zurück zu einer integralen Neutralität wollen", so Lottaz.

Auf der anderen Seite lehnen andere mit einem aktiveren Verständnis der Neutralität den isolationistischen Kurs ab und fordern, dass die Schweiz aktiv Stellung bezieht.

"Es wäre schön, wenn geklärt werden könnte, was unsere Policy ist", sagt Schaad. Dann gäbe es nicht bei jedem geopolitischen Ereignis eine Diskussion, wie sich die Schweiz zu verhalten habe.

Dieser Wunsch könnte bald in Erfüllung gehen: Die Regierung hat einen neuen Bericht über die Neutralität angekündigt. In dem letzten Bericht aus dem Jahr 1993 legte die Regierung dar, wie sie die Neutralität auszulegen gedenke.

Laut Schaad könnte es mit dem neuen Bericht erneut zu einem Richtungswechsel kommen, ähnlich wie nach dem Ende des Kalten Krieges. Auch heute erfordere eine veränderte geopolitische Lage eine Neudefinition der Neutralität.

Auch für das Ausland könnte es interessant sein, ob und wie die Schweiz ihre Neutralität neu interpretiert. "Es besteht die Hoffnung, dass die Schweiz schneller reagieren kann", so Schaad. Nach Ausbruch des Ukraine-Krieges war die Schweiz für ihre zögerliche Sanktionsübernahme von den USA und deren westlichen Verbündeten kritisiert worden.

Der Regierung einen Strich durch die Rechnung machen könnte allerdings alt Bundesrat Christoph Blocher von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP). Er plant eine Volksinitiative, mit der eine allumfassende Neutralität in die Verfassung geschrieben würde. Damit wäre eine strikte Neutralität verbindlich verankert. Das letzte Wort über die Schweizer Neutralität hat also das Volk.

Der Trend geht weg von der Neutralität

Marco Morell

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Wieso die Schweiz neutral ist

Macht die Neutralität noch Sinn?

Die Schweiz bemüht sich seit langem, dank ihrer Neutralität eine wichtige diplomatische Rolle zu spielen zwischen den kriegführenden Parteien in internationalen Konflikten. Diese Politik hat Erfolge und Misserfolge erzielt und ist immer schwieriger aufrechtzuerhalten.

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Freuden und Leiden mit guten Diensten

Finden Sie heraus, wo Sie stehen

Greift Russland bald weitere Länder an? Eine Einschätzung

Der Militärexperte Fabian Hoffmann geht davon aus, dass Russland bald versuchen könnte, weitere Länder anzugreifen. Ist das realistisch? Sicherheitsexperten ordnen ein. 
 

Worum geht es?  Der Sicherheitsexperte und Nuklearforscher der Uni Oslo, Fabian Hoffmann, warnte mit einem Post auf der Kurznachrichtenplattform X (ehemals Twitter), dass Russland in den nächsten zwei bis drei Jahren weitere Ziele in Europa angreifen könnte. Besonders gefährdet seien Gebiete im Baltikum, namentlich Estland, Lettland oder Litauen. Von dort aus könnte der russische Präsident Wladimir Putin weitere Ziele in Europa angreifen. Darum solle sich Europa auf das Schlimmste vorbereiten, denn nur ein starkes Europa könne Russland davon überzeugen, dass sich ein Angriff nicht lohne.

Was sagt der SRF-Sicherheitsexperte?  Gemäss Fredy Gsteiger würden die Stimmen wie die von Fabian Hoffman häufiger. Das sei keine Panikmache. Auch führende Politiker, wie der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius, sprechen darüber. Die Nato müsse sich Gedanken machen, dies vor allem auch, weil die westlichen Länder alles andere als optimal auf eine solche Situation vorbereitet wären. Auch der Oberbefehlshaber des schwedischen Militärs und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski haben in den letzten Tagen Ähnliches gesagt und vor russischen Angriffen gewarnt.

Ein Angriff Russlands auf Westeuropa würde die Schweizer Neutralität auf die Probe stellen.

Wie realistisch ist ein solches Szenario?  Sicherheitsexperte François Heisbourg, Präsident des «International Institute for Strategic Studies», geht momentan nicht von einer Bedrohung durch Russland aus. Russland sei derzeit geschwächt und müsse zuerst die militärischen Einbussen aus dem Ukrainekrieg verkraften. Er sagt aber auch, dass noch vor zwei Jahren ein Angriff Russlands auf die Ukraine als sehr unwahrscheinlich betrachtet wurde, aber es sei eben doch passiert.

Was bedeutet dies für die Schweiz?  Fredy Gsteiger sagt, wenn es tatsächlich zu russischen Angriffen auf unsere Nachbarländer käme, dann würde der Druck auf die Schweiz steigen, um sich für mehr europäische Gesamtverteidigung zu engagieren. Die Schweiz sei ja neutral und könne sich erst verteidigen, wenn sie selber angegriffen werde. Damit könnte das Bedürfnis in der Bevölkerung wachsen, sich in eine Allianz einzugliedern, beispielsweise die Nato, um so mehr Schutz zu haben. Ein Angriff auf Westeuropa würde also die Schweizer Neutralität auf die Probe stellen.

Wird Russland andere Länder angreifen?

Wie Tausende "Schweizer" Chips weiter in Russland landen

Trotz Sanktionen geht der Fluss verbotener Schweizer Technologie nach Moskau weiter. Das zeigen eine Recherche von RSI.

Sandro Bucher

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An der Aussenseite der Tür klebt ein DIN-A4-Blatt, auf dem der Firmenname in kyrillischer Schrift steht: "Ural Telecom Systems". Wir befinden uns im dritten Stock eines Gebäudes im Zentrum von Jekaterinburg, einer russischen Stadt im Ural, die für ihr industrielles und militärisches Zentrum bekannt ist. Über dieses Unternehmen, das eigentlich einen anderen Namen trägt, läuft etwa ein Drittel aller Produktimporte von Traco Power, einem in Baar ansässigen Unternehmen für elektronische Systeme. Die Halbleiter von Traco Power wurden bereits in russischen Waffen gefunden.

Washington will in Bern über Sanktionen sprechen

Das ist nur einer von vielen Fällen, den RSI bei Recherchen entdeckt hat. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist westliche und schweizerische Technologie für das Militär von Wladimir Putin extrem wichtig geworden. Das Material ist vor allem für Raketen, Kommunikationssysteme und Drohnen unverzichtbar, wie mehrere Berichte unabhängiger internationaler Denkfabriken, darunter das Royal United Services Institute (RUSI) und Conflict Armament Research (CAR), gezeigt haben.

Um die Rüstungsproduktion einzuschränken, hat sich auch die Schweiz den Sanktionen angeschlossen, und diese Lieferungen ganz zu unterbinden, ist für die USA und ihre Verbündeten ein wichtiges, aber auch schwieriges Ziel. Ein so wichtiges und schwieriges Ziel, dass Brian Nelson, US-Unterstaatssekretär für Terrorismus und Finanzkriminalität, vor zwei Wochen zu Gesprächen mit den Bundesbehörden nach Bern reiste.

Laut dem Sprecher des Staatssekretariats für Wirtschaft, Fabian Maienfisch, den RSI befragt hat, war das Treffen "äusserst konstruktiv und respektvoll". Das "gemeinsame Ziel" einer "effektiven Umsetzung der Sanktionen wurde weiter betont, dies obwohl die Schweiz der internationalen Task Force nicht beigetreten ist", so Maienfisch weiter.

RSI konnte jedoch nachweisen, dass Hightech-Produkte von Schweizer Firmen trotzdem nach Moskau gelangten. Mit Zugang zu Zolldatenbanken wurden Dutzende von Dokumenten gesichtet und analysiert, um von der Bundesregierung sanktionierte Geisterfirmen und ausländische Versender ausfindig zu machen, die auf internationalen schwarzen Listen gelandet sind.

23.03.2023: Schweizer Technologie fliesst auch heute noch nach Russland

Wie man über Hongkong oder Istanbul die Sanktionen umgehen kann

Die Produkte von Traco Power wurden, wie erwähnt, auch nach Kriegsausbruch nach Russland geliefert. Von März 2022, also nach den von der Schweiz beschlossenen Sanktionen, bis August 2022, hat RSI mehr als tausend Sendungen von Traco Power-Produkten nach Moskau im Gesamtwert von 22.600 Franken gefunden. Dabei handelt es sich hauptsächlich um elektronische Konverter und Mikrochip-Systeme. In einem Bericht der Unabhängigen Antikorruptionskommission der Ukraine (Nako) vom vergangenen Februar wurde aufgezeigt, dass diese Systeme des Baarer Unternehmens in einigen russischen Kommunikationssystemen gefunden wurden, die im Donbass eingesetzt wurden.

Die meisten Sendungen werden von chinesischen und türkischen Import-Export-Unternehmen durchgeführt. Zu den grössten gehören "BRK Logistics Transportation and Trade Limited Company in Transit Transaction" und "Smart Trading Tasimacilik San Ve LTD", beide mit Sitz in Istanbul. Letztere wurde von den Vereinigten Staaten sanktioniert.

Der Hauptempfänger in Russland ist "Ural Telecom Systems", das etwa ein Drittel der mehr als tausend Sendungen mit Produkten von Traco Power importiert hat. "Ural Telecom Systems" sei laut ihrer Website "auf die Zollabfertigung spezialisiert und bietet Beratung für elektronische Komponenten der bekanntesten Produkte." Einer der Gründer des 2019 in Jekaterinburg gegründeten Unternehmens hat unter seinem Namen ein weiteres russisches Unternehmen registriert, das im Bereich der Elektronik tätig ist: "GetChips"; dieses wurde kürzlich in der Ukraine mit Sanktionen belegt.

Jetzt hat "Ural Telecom Systems" einen anderen Namen. Seit November letzten Jahres, seit der Übernahme durch einen neuen Vorstandsvorsitzenden, ist sie im Handelsregister als "Power Telecom" eingetragen. Das Motiv für diesen Vorgang ist RSI nicht bekannt. Bekannt ist nur, dass die Einnahmen des Unternehmens infolge des Krieges erheblich gestiegen sind. Das Unternehmen wird vom ukrainischen Aussenministerium und der Nationalen Agentur für Korruptionsbekämpfung überwacht, wurde aber bisher von keinem Land sanktioniert.

Auf Nachfrage von RSI antwortet Traco Power, dass das Unternehmen "alle Lieferungen und Handelsbeziehungen nach Russland, auch über Drittländer, sofort eingestellt" habe. "Alle unsere autorisierten Vertriebskanäle wurden eindeutig informiert. Seit dem 28. Februar 2022, als die EU-Sanktionen in Kraft traten, dürfen Produkte, die in Russland verwendet wurden, nicht mehr aus unserem Unternehmen stammen." Wie RSI jedoch festgestellt hat, sind die Produkte des Unternehmens auch nach dem Exportverbot aus Drittländern nach Russland gelangt.

Schweizer Chips, die auf Atomsprengköpfen landen können

Und nach Russland wurden, wiederum über Drittländer, Produkte eines anderen in der Schweiz ansässigen Unternehmens eingeführt: "STMicroelectronics", der französisch-italienische multinationale Marktführer der Halbleiterindustrie mit Sitz in Genf. Die Halbleiter dieses Unternehmens sind in mehreren russischen Waffen zu finden, z. B. in den Kalibr- oder Iskander-Raketen, die sogar Atomsprengköpfe tragen können und nach Angaben des Kremls bald nach Weissrussland verlegt werden könnten. Und die Ströme gehen weiter.

In den Zolldatenbanken, die RSI von März bis August 2022 analysiert hat, sind mindestens 6.700 Sendungen mit Produkten des Unternehmens nach Russland verzeichnet. Der Gesamtpreis der Lieferungen beträgt 412.000 Franken. Wie RSI aus dem Wortlaut der Zollangaben entnehmen kann, handelt es sich dabei hauptsächlich um "Transistoren und Halbleiter sowie monolithische elektronische integrierte Schaltungen".

Der grösste Importeur von STMicroelectronics-Produkten ist immer noch das russische Unternehmen "Ural Telecom Systems". Interessanterweise gehören zu den importierenden Unternehmen aber auch russische Unternehmen, die von der Schweiz sanktioniert wurden, wie "SMT iLogic", das seit dem 29. März 2022 unter Sanktionen steht. Insgesamt sind etwa hundert Sendungen an dieses Unternehmen adressiert. Das Unternehmen steht Berichten zufolge in Verbindung mit einem anderen russischen Unternehmen, dem in St. Petersburg ansässigen "Special Technology Center" (STC), einem Hersteller von Rüstungsgütern für das russische Militär, insbesondere Orlan-Drohnen, der ebenfalls von vielen westlichen Ländern sanktioniert wurde.

"Wir haben keine weiteren Operationen in Russland".

RSI hat STMicroelectronics um eine Stellungnahme gebeten. Das Unternehmen stellt per E-Mail klar, dass es "ein umfassendes globales Programm zur Einhaltung von Handelsbestimmungen implementiert hat, das alle internationalen Handelsregeln und -vorschriften einhält [...] Jeder Teil unserer Lieferkette", so das Unternehmen weiter, "ist sich seiner Verantwortung für die Einhaltung der geltenden Gesetze und Vorschriften bewusst. Und seit Ende Februar 2022 haben wir Massnahmen ergriffen, um die spezifischen Anforderungen mehrerer Pakete von Sanktionen und Kontrollmassnahmen zu erfüllen. So haben wir beispielsweise die Compliance-Anforderungen für alle unsere Vertriebskanäle verschärft, einschliesslich der Wachsamkeit gegenüber der Umgehung von Sanktionen und der Umleitung von Lieferungen."

Von West nach Ost nicht nur Messer, sondern auch Halbleiter

Nachforschungen von RSI haben jedoch ergeben, dass die Produkte des Unternehmens auch an ein anderes russisches Unternehmen geliefert werden, das in der Schweiz mit Sanktionen belegt ist: "Vest-Ost", ebenfalls mit Sitz in Jekaterinburg, wo es 2009 gegründet wurde. Aus dem russischen Handelsregister geht hervor, dass der Geschäftsname des Unternehmens "Grosshandel mit Möbeln, Haushaltswaren, Messern und Metallprodukten" lautet. Es erweist sich jedoch als Vertreiber von Computer- und Telekommunikationsausrüstung, wie RSI durch eine Open-Source-Analyse über web.archive.org herausgefunden hat, die Webseiten abruft, die heute nicht mehr zugänglich sind.

Die "Vest-Ost" geriet am 17. April ebenfalls ins Fadenkreuz der USA, als sie vom Bureau of Industry and Security auf die schwarze Liste gesetzt wurde. Dies geschah "wegen des Versuchs, Ausfuhrkontrollen zu umgehen und Güter mit US-Ursprung (und westlichem Ursprung) zur Unterstützung der russischen Militär- und/oder Verteidigungsindustrie zu erwerben oder dies zu versuchen". "Konkret", so erklärt das Ministerium, "beschaffte dieses Unternehmen weiterhin Güter im Namen russischer Einrichtungen, die nach der russischen Invasion in der Ukraine mit Sanktionen belegt wurden. Oder versuchte, diese zu beschaffen."

Ein weit verbreitetes und schwer zu bekämpfendes Phänomen ist die Umgehung von Sanktionen durch Unternehmen aus Drittländern, die sich nicht an die westlichen Massnahmen halten. Daher reagieren die Vereinigten Staaten mit zusätzlichen Massnahmen, sogenannten "sekundären Sanktionen". Auf der Liste des Handelsministeriums vom vergangenen April standen viele andere türkische und chinesische Unternehmen, darunter auch die in Hongkong ansässige "King-Pai Technology". Und auch dieser asiatische Versender hat nach den Sanktionen verbotene Schweizer Waren nach Russland geschickt.

Laut den USA hat "King-Pai Technology" Material an mehrere Einrichtungen des militärisch-industriellen Komplexes in Russland geliefert, darunter Radioavtomatika, eine Tochtergesellschaft von Rostec, die sich auf die Beschaffung ausländischer Produkte für die russische Verteidigungsindustrie spezialisiert hat. Nach Angaben des US-Finanzministeriums wird die von King-Pai gelieferte Mikroelektronik im Verteidigungsbereich eingesetzt, unter anderem für Leitsysteme für Marschflugkörper. RSI fand mindestens 106 Sendungen von "STMicroelectronics"-Chips, die von King-Pai nach Russland geschickt wurden, von denen viele speziell an die sanktionierte "Vest-Ost" gerichtet waren. Aber das war noch nicht alles.

Da mehr als 500 Sendungen von zwei anderen chinesischen Import-Export-Unternehmen, die von den Vereinigten Staaten sanktioniert wurden (die "STK Electronics Co. Limited", Hongkong, und Sinno Electronics Co. Limited). Sie wurden auch sanktioniert, weil sie die russische Militär- und Verteidigungsindustrie unterstützen und nach der russischen Invasion in der Ukraine weiterhin Verträge über die Lieferung von Teilen geschlossen haben, die von russischen Einrichtungen aufgelistet und sanktioniert wurden.

02.05.2023: Ukraine, russische Offensive geht weiter

Die Produkte eines anderen Schweizer Unternehmens, das ebenfalls in der Ukraine für einige Arten von elektronischen Systemen des Kreml-Militärs eingesetzt wird, flossen auch nach den Sanktionen weiter nach Russland. Die Rede ist von dem schweizerisch-amerikanischen multinationalen Unternehmen "Te Connectivity" mit Sitz in Schaffhausen. Aus den von RSI analysierten Daten geht hervor, dass von März bis August letzten Jahres mehr als 7.800 Lieferungen im Gesamtwert von über 116.000 Franken erfolgten, die hauptsächlich Verbindungselemente oder elektrische Geräte und Anlagen betrafen.

Und wieder kehren wir in den dritten Stock des Gebäudes in der Innenstadt von Jekaterinburg zurück, da einer der Hauptempfänger - neben anderen - das "Ural Telecom System" ist. RSI hat TE Connectivity um eine Antwort gebeten, die besagt, dass "alle Exportkontrollen für die weltweiten Aktivitäten des Unternehmens gelten und es alle Sanktionen, die nach dem Einmarsch in der Ukraine gegen Russland verhängt wurden, vollständig eingehalten hat." Ab März 2022 "hält TE Connectivity ausserdem an seiner Politik fest, keine direkten oder indirekten Lieferungen seiner Produkte nach Moskau vorzunehmen, und wird diese Politik weiterhin mit seinen Vertriebspartnern kommunizieren und erwartet von ihnen, dass sie sich daran halten."

Das russische GPS von St. Gallen bis Moskau

Ebenfalls nach Russland gelangten Produkte der NVS Technologies Ag, insgesamt 18 Sendungen im Wert von 90.000 Rubel (ca. 9.000 Franken), die fast alle über chinesische Versender gingen. Darunter, laut Zolltext, sind nicht nur Mikrochips, sondern auch Funknavigationsgeräte und Schiffsradare. Zu den Endempfängern gehören sanktionierte russische Unternehmen wie "STM iLogic", die mit dem Verteidigungssektor des Kremls verbunden sind, aber auch das kürzlich sanktionierte ukrainische Unternehmen "Testkomplekt".

NVS Technologies ist ein Unternehmen mit Sitz in der achttausend Einwohner zählenden Gemeinde Oberriet im Kanton St. Gallen, das 2004 von einem gebürtigen Russen gegründet wurde und in der Entwicklung und dem Vertrieb von elektronischen Systemen und Komponenten tätig ist. Der CEO ist auch Mitbegründer von KB Navis, einem russischen Unternehmen mit Sitz in Moskau - das in der Ukraine unter Sanktionen steht -, das NVS Telematic System kontrolliert, ein führendes Unternehmen bei der Entwicklung von Produkten, die GLONASS-Signale (das russische GPS) nutzen, die heute vom Kreml-Militär hauptsächlich für Raketen und Drohnen verwendet werden. Einem öffentlichen Dokument zufolge hat KB Navis 106 Verträge mit der russischen Regierung, einschliesslich des Verteidigungssektors. Mit Ausnahme von der Ukraine hat kein anderes Land diese Unternehmen sanktioniert.

NVS Technologies, mit dem RSI Kontakt aufnahm, antwortete allgemein, "dass es alle Vorschriften beachtet und ein strenges internes Programm eingeführt hat", beantwortete aber nicht spezifischeren Fragen, nämlich ob es wirklich Kenntnis von diesen Sendungen hat, die von ausländischen Versendern auch nach den Sanktionen durchgeführt werden, ob es diese Drittunternehmen gründlich überwacht und ob es weitere Schritte zur Verstärkung der internen "Sorgfaltspflicht" unternehmen wird.

07.03.2023: Diese Schweizer Komponenten in russischen Waffen

Keine Untersuchung in der Schweiz wegen Verletzung von Sanktionen

Auf die Fragen von RSI, wie die Sanktionen durch Drittländer umgangen werden, hat das Staatssekretariat für Wirtschaft gesagt, dass "Russland, aber auch der Iran, im Moment ihre Technologieprodukte für militärische Zwecke kaufen. Und es gibt viele Länder, die keine Massnahmen haben, insbesondere gegen Russland. Auch das ist eine Herausforderung für das Seco: Exportkontrollen durchzuführen, um zu verhindern, dass Schweizer Produkte aus Drittländern abgezweigt werden und dann insbesondere nach Moskau gelangen", erklärt Jürgen Boehler, Leiter Exportkontrolle/Industrieprodukte im Seco.

"Es liegt aber auch in der Verantwortung des Schweizer Exporteurs, seinen Kunden zu kennen", sagt er. Obwohl es bei Massenprodukten wie Chips fast unmöglich ist, den wahren Endabnehmer zu erkennen." Doch auch Schweizer Unternehmen tragen Verantwortung. In der Tat, erklärt Boehler, "ist es klar, dass es verboten ist, wenn ein Schweizer Unternehmen in der Schweiz produzierte Waren verkauft und weiss, dass der Endabnehmer Russland oder der Iran ist." Im Zweifelsfall kann das Seco die mutmasslichen Verstösse der Bundesanwaltschaft melden, die dann eine eigene Untersuchung durchführt. Im Falle eines Verstosses sieht das Embargogesetz eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe von bis zu 500.000 Franken vor. In schweren Fällen beträgt die Strafe bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Auf Anfrage von RSI hin erklärt die Bundesanwaltschaft: "Bis heute wurde keine Meldung über die Eröffnung eines Verfahrens im Zusammenhang mit Sanktionen gegen Russland eingereicht, wohl aber eine Meldung im Zusammenhang mit der Lieferung von verbotenen Waren in die Ukraine. Nach Prüfung der Anzeige wurde entschieden, dass die Eröffnung einer Strafuntersuchung nicht gerechtfertigt ist und dass allfällige Sanktionsverstösse in der Verantwortung des Seco liegen. Zurzeit sind verschiedene Abklärungen im Gange, zu denen keine weiteren Angaben gemacht werden können."

Die Frage der Verletzung von Technologie- und Dual-Use-Sanktionen war bereits im vergangenen September mit einem Postulat der Genfer Nationalrätin Stefania Prezioso Batou politisch geworden, und es ist nicht sicher, dass nicht bald neue parlamentarische Vorstösse eingereicht werden könnten. Eine wichtige Frage, die auch in Europa diskutiert wird.

"Swiss made" in russischen Waffen

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