Von einem viersprachigen Land verwandelt sich die Schweiz in einen kleinen Turm zu Babel, in dem sich Englisch, Portugiesisch und Albanisch immer mehr verbreiten. Seit dem Jahr 2000 hat sich der Anteil der Menschen, die keine Landessprache als Hauptsprache reden, verdoppelt.

Bei den Landessprachen hat sich seit den 70er Jahren einiges getan. Die Zahl derjenigen, die Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch als Hauptsprache sprechen, hat abgenommen. Andererseits ist der Anteil derer, die Französisch oder eine Fremdsprache sprechen, gestiegen. Ein Grund dafür ist die Einwanderung. Aber nicht nur.

Ein weiterer Grund ist ganz simpel: Die Art der Datenerhebung. Das Bundesamt für Statistik erklärt dazu, dass seit 2010 die Befragten die Möglichkeit haben, eine oder mehrere Hauptsprachen anzugeben. Frühere Umfragen sahen diese Möglichkeit nicht vor. Aber auch unabhängig dieser rein statistischen Eigenheit hat der Anteil der Fremdsprachen hierzulande seit 2010 weiter zugenommen.

Welche Fremdsprachen liegen auf Platz 1 und 2?

Die meistgesprochenen Fremdsprachen in der Schweiz sind Englisch und Portugiesisch, gefolgt von Albanisch. Spanisch hingegen hat an Boden verloren. Englisch gilt als die Lingua franca des 21. Jahrhunderts und wird in allen Regionen des Landes gesprochen.

Bei der Arbeit, mehr Deutsch als Englisch

Die Mehrheit der Ausländerinnen und Ausländer, die in die Schweiz kommen, arbeitet - zumindest statistisch gesehen - mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Umfeld, in dem der schweizerdeutsche Dialekt die vorherrschende Sprache ist (42 % der Fälle).

Und Fakt ist: Die Schweizerinnen und Schweizer passen sich an. Da das Arbeitsumfeld immer internationaler wird, wird tendenziell mehr Hochdeutsch oder Englisch gesprochen. Mittlerweile sprechen doppelt so viele Menschen am Arbeitsplatz Englisch oder Deutsch als zu Hause diese Sprachen.

Die Schweiz wird mehrsprachiger

Grüezi-Adieu - was die Schweiz zum Musterland der Mehrsprachigkeit macht

Vier Sprachen, kein Separatismus: Die Schweiz gilt als Idealbild einer mehrsprachigen Nation. Aber wie kommt es dazu? Darüber spricht im Landesmuseum Stéphane Dion. Der Botschafter Kanadas in Deutschland ist ein Experte für Multilingualismus.

Erst vor zwei Jahren hat der separatistische Nationalismus in Kanada sein Comeback gegeben. Nachdem es eine Weile ruhig war um die Unabhängigkeitsbewegung im französischsprachigen Québec, legte die sezessionistische Partei "Bloc queébécois" bei den Wahlen 2019 massiv zu und brachte die Trennung zwischen einem französisch- und einem englischsprachigen Kanada zurück ins politische Bewusstsein.

Stéphane Dion, kanadischer Botschafter in Deutschland und Sondergesandter für die Europäische Union, hat Erfahrung mit dem Thema. Der Politikwissenschaftler, der nach einer Lehrtätigkeit an der Universität von Montreal in der Politik alle möglichen Ämter durchlief, hatte immer wieder mit der nationalen Einheit im multilingualen Kanada zu tun, unter anderem in den Jahren 2001 bis 2003 als Minister für Amtssprachen.

Dion hat eine klare Meinung, warum es in der Schweiz keinen Separatismus der Sprachgruppen gibt - mal abgesehen von der binnenschweizerischen Jura-Frage -, anders als in Spanien, Belgien und seinem Heimatland. Und er sieht in der multilingualen Konstellation vor allem Vorteile.

Am2. November spricht Dion in der Dienstagsreihe des Landesmuseums in Zürichüber Plurilingualismus und Kohäsion, zusammen mit dem Liechtensteiner Michel Liès, dem Präsidenten des liberalen Think Tanks Avenir Suisse. SWI swissinfo.ch ist Medienpartner des Anlasses.

Wir haben mit Stéphan Dion über den "wundersamen" Zusammenhalt der Schweiz gesprochen.

SWI swissinfo.ch: Die Grenze zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz wird gerne als "Röstigraben" bezeichnet, die multilinguale Konstellation wird also kulinarisch travestiert. Was sagt das über die Schweiz aus?

Stéphane Dion: Dass die Schweiz ein vielfältiges Land ist... und lecker!

Gibt es in Kanada einen vergleichbaren Ausdruck, haben Sie einen Ahorn-Sirup-Graben?

Das glaube ich nicht. Ahornsirup kann man sowohl auf Französisch als auch auf Englisch geniessen! Andererseits sprechen wir oft von den "zwei Einsamkeiten", um zum Ausdruck zu bringen, dass Frankophone und Anglophone nicht genug miteinander reden. Doch so isoliert können sie gar nicht sein, denn der Prozentsatz der gemischten Haushalte – gemeint sind frankophon-anglophone Paare - ist sowohl in Quebec als auch in anderen Teilen Kanadas hoch. Wie kann Liebe zwischen Menschen entstehen, die nicht miteinander sprechen dürfen? Ein Mysterium.

Unter den multilingualen Ländern gilt die Schweiz als Idealbild der nationalen Kohäsion, anders als in Kanada, Spanien oder Belgien fehlen separatistische Strömungen. Warum?

Als ersten Grund dafür sehe ich den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz: Die italienischsprachigen Schweizerinnen und Schweizer haben wenig Anreize, sich Italien anzuschliessen, die französischsprachigen Frankreich oder die deutschsprachigen Deutschland.

Und dann ist da die historische Tatsache, dass die religiöse Spaltung nicht mit der sprachlichen zusammenfiel, da ist die demografische Stabilität der Sprachgruppen und ihre relative wirtschaftliche Gleichheit sowie das Fehlen einer sprachlich isolierten föderalen Einheit wie sie zum Beispiel das französischsprachige Québec in Kanada darstellt. Aber das ist genau das Thema, über das ich im Landesmuseum reden werde.

Die Schweiz betrieb vor allem im letzten Jahrhundert eine geschichtsvergessene Mythologie, die auch heute noch nachwirkt. Was denken sie war deren Einfluss auf die nationale Identität?

Ein Volk, eine Zivilisation darf seine Geschichte nicht vergessen, auch nicht die dunklen Seiten, die ein Gefühl der Scham hervorrufen. Auch Kanada hat dunkle Seiten in seiner Vergangenheit, denen es sich nur langsam stellt, insbesondere im Hinblick auf die Behandlung der indigenen Völker.

Ein Land wächst daran und hat die besten Chancen auf Zusammenhalt, wenn es sich mit seinen Fehlern in der Vergangenheit auseinandersetzt. Es wird zu Recht gesagt, dass die Geschichte notwendig ist, um die Gegenwart zu informieren.

Es heisst aber auch, dass wir die Gegenwart nicht allein mit dem Massstab der Vergangenheit beurteilen und die Zukunft nicht allein mit dem Massstab der Vergangenheit betrachten sollten.

Ich möchte hinzufügen, dass wir unsere Vorfahren nicht mit den Werten von heute beurteilen sollten. Es gibt zu viele Versäumnisse, aber auch zu viele Anachronismen in der Betrachtung der Vergangenheit.

Braucht es überhaupt so etwas wie eine nationale Idee? Oder ist Kohäsion ein Produkt der institutionellen und demokratischen Ebene - in der Schweiz von Parteien, die sprach- und regionsübergreifend agieren, oder von politischen Mitbestimmungsrechten, die immer wieder andere Fraktionen zur Folge haben?

Ich denke, wir profitieren davon, dass wir mehrere Identitäten haben. Ich bin ein stolzer Québecois und ein stolzer Kanadier. Identitäten addieren sich, sie subtrahieren sich nicht.

Was stiftet in Kanada nationalen Zusammenhalt, gibt es eine gemeinsame Vorstellung nationaler Identität, hinter die sich auch eine Separatistin respektive ein Separatist in Québecvorbehaltlos stellt?

Der Stolz darauf, Kanadierin oder Kanadier zu sein, rührt von der wunderschönen Weite des Landes wie von den Werten Offenheit und Respekt, mit denen Kanada in der ganzen Welt identifiziert wird. Diesem Ideal näher zu kommen, ist es, was die Kanadierinnen und Kanadier motiviert, sich gemeinsam für die Verbesserung ihres Landes einzusetzen. Ich glaube, dass viele in der Unabhängigkeitsbewegung in Québec dieses Ideal teilen und dass sie davon überzeugt werden müssen, dass sie ihre Heimat in ganz Kanada und nicht nur in Québec finden können.

Anders als die Westschweizer ist die frankophone Bevölkerung in Kanada isoliert – und einer global dominanten englischen Sprache ausgesetzt. Kann man sagen, das schafft andere Befindlichkeiten?

Ganz genau. Der nordamerikanische Kontinent ist nicht mehrsprachig wie Europa. Englisch hat eine grosse Anziehungskraft. Die Notwendigkeit, die französische Sprache zu schützen, muss ein ständiges Anliegen im politischen Leben Kanadas sein, in Québec und anderswo im Land.

In der Schweiz mit ihren vier Sprachen beobachten wir das Phänomen, dass Englisch gerade von Jungen als Brückensprache genutzt wird. Was sollen wir davon halten? Ist das ein Verlust nationaler Identität oder eine willkommene Entkoppelung derselben von der Sprache?

Da Englisch die Weltsprache schlechthin ist, haben junge Menschen eindeutig ein Interesse daran, sie zu lernen. Ich glaube nicht, dass wir uns darüber Sorgen machen müssen, solange viele junge Schweizerinnen und Schweizer neben ihrer Muttersprache eine weitere Sprache lernen: Französisch, Deutsch, Italienisch oder Rätoromanisch.

Sie waren in Ihrer langen politischen Karriere unter anderem Minister für Amtssprachen. Was haben Sie für den Zusammenhalt Kanadas unternommen?

Ich habe einen Plan zur Wiederbelebung der Amtssprachen ausgearbeitet und umgesetzt, über den heute noch gesprochen wird. Dieser Plan konzentrierte sich auf das wachsende Phänomen der bereits erwähnten exogamen französisch-englischen Paare. Ziel war es, diese Familien dabei zu unterstützen, ihr zweisprachiges Erbe an ihre Kinder weiterzugeben. Dies bleibt die grösste Herausforderung für die Zukunft des Französischen in Kanada.

Fördern Sprachkompetenzen in multilingualen Staaten automatisch die nationale Kohäsion?

Auf jeden Fall tragen sie dazu bei. Wir sollten uns dessen stärker bewusst sein. Mehrsprachigkeit ist aber nicht nur eine Frage des nationalen Zusammenhalts, sondern auch der Wettbewerbsfähigkeit in der heutigen Welt. Jedes Mal, wenn ich mich an einer Diskussion darüber beteiligt habe, wie die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Kanadas verbessert werden kann, habe ich darauf hingewiesen, dass die Tatsache, dass Kanadas zwei Amtssprachen internationale Sprachen sind, einen wirtschaftlichen Vorteil darstellt, den wir besser nutzen könnten. Das zeigen mehrere Studien.

Was die jüngeren Generationen betrifft, so erweist man ihnen einen Bärendienst, wenn man sie einsprachig werden lässt. Sie werden im Vergleich zu Jugendlichen in ihrem Alter, die sich bemüht haben, mehr als eine Sprache zu lernen, benachteiligt sein.

Welche politische Forderung ist daraus abzuleiten?

Eine grundlegende Verantwortung: Mehrsprachige Staaten haben die Pflicht, der Welt zu zeigen, dass ihre sprachliche Vielfalt ein Reichtum ist, auf den eine ganze Bevölkerung stolz sein kann. Kanada und die Schweiz müssen dies unter Beweis stellen, und zwar nicht nur in Bezug auf die weit verbreiteten Sprachen - Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch - sondern auch in Bezug auf Minderheitensprachen wie Rätoromanisch oder die Sprachen der indigenen Völker Kanadas.

Wir müssen zeigen, dass die sprachliche Vielfalt keine Quelle der Spaltung eines Landes ist, sondern ein beneidenswerter Vorteil in der heutigen Welt.

Ein Musterland für Mehrsprachigkeit

Ein kreativer Chrampf: «Blutbuch» fordert Übersetzende heraus

Seid kreativ und frei, gab Kim de l'Horizon den Übersetzenden des Romans «Blutbuch» auf den Weg. Rose Labourie hat sich dies für ihre Übersetzung des Romans ins Französische zu Herzen genommen.

Es war eine Sensation: Im Herbst 2022 gewann der Roman «Blutbuch» der Schweizer Autorenperson Kim de l'Horizon den Deutschen und den Schweizer Buchpreis. Inzwischen arbeiten Übersetzende unterschiedlichster Zielsprachen an dem Text – und stehen vor schwierigen Problemen.

Da ist die Muttersprache Berndeutsch, an der sich die Hauptfigur in einer Hassliebe abarbeitet. Da steht eine Anglizismen-dominierte Jugendsprache neben antiquiert-herzigen Grossmutterwörtern. Da wird aber auch konsequent gegendert.

Vor allem aber: Da ist die Standardsprache mit teilweise kaum erkennbaren Helvetismen getränkt.

Wie lässt sich die Mundart als Deutschschweizer Alltagssprache und «Herzenssprache» zum Beispiel ins Französische transferieren? Denn hier wurden die Dialekte in den vergangenen Jahrhunderten als minderwertige Sprachvarietäten praktisch ausgemerzt.

Rose Labourie hat die Antworten bereits gefunden: Ihre Übersetzung ins Französische wird im Herbst publiziert. Geholfen hat ihr ein Brief von Kim de l'Horizon mit der Aufforderung an alle Übersetzenden, mit der Sprache so kreativ und frei umzugehen wie im Original. Das hat Rose Labourie ernst genommen.

Der Roman «Blutbuch» wird derzeit ins Italienische, Niederländische, Slowakische, Katalanische, Dänische, Französische, Tschechische, Kroatische, Norwegische, Englische und Spanische übersetzt oder ist bereits übersetzt worden. Mitte Mai trafen sich die elf Übersetzerinnen und Übersetzer im Übersetzerhaus Looren in Wernetshausen (ZH) zu einem mehrtägigen Workshop, um die drängendsten Sprachfragen mit Expertinnen und Experten und mit Kim de l'Horizon selbst zu diskutieren. An den Solothurner Literaturtagen fand abschliessend eine öffentliche Veranstaltung mit Mitwirkenden des Workshops statt. 

Für eine längere Mundartpassage im Roman suchte sie in den beinahe verschwundenen Dialekten der französischen Schweiz, in den sogenannten Patois Romands. Mit Hilfe von Wörterbüchern, Videos und Liedern wie dem berühmten «Ranz des Vaches» (Patois Fribourgeois) hat Rose Labourie einen eigenen, imaginären Dialekt kreiert. Für Französischsprechende ist er noch knapp verständlich:

«La Barbara Züllig ètè dloin la pluch chaj dè tôt lè fam dcha famy.» (Hêtre pourpre)

«dBarbara Züllig isch äuä di weisischti Frou gsi i irere Sippä.» (Blutbuch)

Dieser freie Umgang mit Sprache passt auch zum Erzähl-Ich im Roman. Denn dieses will sich schreibend dem Zwang des Eindeutigen, dem «Binaritäts-Faschismus», wie es heisst, möglichst entziehen. Gerade die Sprache erlaube diese Freiheit, «weil das Element der Sprache das Flüssige ist», wie es im Roman heisst.

Mundartwörter wie «Chrättli» oder Kosenamen wie «Bärli» haben für die Hauptfigur einen emotionalen, aber oft zwiespältigen Erinnerungswert. Um dem Gewicht dieser Wörter im Text gerecht zu werden, hat Rose Labourie eigens ein «Lexikon der Meersprache» (mit «Meersprache» wird in «Blutbuch» die Muttersprache bezeichnet) zusammengestellt. Dafür nahm sie Begriffe aus französischen Dialekten aus aller Welt zu Hilfe, aus dem Altfranzösischen, aus Fachgebieten und auch aus der eigenen Fantasie.

«Chüschele» übersetzt sie mit «chucheler» (statt korrekt «chuchoter»). Und die «Truckli» der «Grossmeer» werden im französischen Text zu «boîtillons». Ein Fachwort aus dem Mühlehandwerk, das bei Französischsprachigen viele Assoziationen wecken kann.

Bei der Lektüre des Romans hatte Rose Labourie das Gefühl, eine Art Zauberformel zu lesen, welche die Grenzen der Sprache erweitert. Im Französischen hat sie mit viel Aufwand und Kreativität eine ganz eigene Zauberformel für das «Blutbuch» erschaffen.

Kim de l'Horizon: «Blutbuch». DuMont, 2022. Auf Französisch: Kim de l'Horizon: «Hêtre pourpre». Edition Juillard, erscheint Ende August 2023. Auf Spanisch: Kim de l'Horizon: «Libro de Sangre». Verlag de Conatus, 2023. 

«Blutbuch» fordert Übersetzende heraus

Englisch als Verständigungssprache in der Schweiz: gut oder schlecht?

Es ist nicht selten, dass man Schweizerinnen und Schweizer aus verschiedenen Landesteilen hört, die sich auf Englisch unterhalten. Nicht alle sind darüber glücklich, aber nützt Englisch als Verständigungssprache dem nationalen Zusammenhalt oder schadet sie ihm?

«Die wachsende Bedeutung des Englischen darf nicht länger ignoriert werden und man muss die Mehrsprachigkeit im Land diskutieren.» Der das sagt, ist keine Schweizer. Es ist Sven Gatz, seines Zeichens Minister für die Förderung der Mehrsprachigkeit in der belgischen Hauptstadt-Region Brüssel. 

In einem Interview mit der Brussels Times zu Beginn der Pandemie sagte er, er sei der Ansicht, dass der Umgang mit der Covid-19-Pandemie zu Kommunikationsproblemen zwischen den Sprachregionen Belgiens geführt hat. Darum solle man Englisch als eine der Hauptsprachen berücksichtigen.

Er räumte jedoch ein, dass es Widerstand geben würde. "Es gibt bereits viele Leute, die sagen, dass wir zuerst die Sprachen der anderen lernen sollten, bevor wir dem Englischen den Vorrang geben."

Gatz’ Äusserungen verdeutlichen einige der politischen und sozialen Herausforderungen, denen sich mehrsprachige Länder wie die Schweiz, Belgien und Kanada stellen müssen. Auch wenn man in der Schweiz während der Pandemie die Politik kritisierte und niemand auf die Idee kam, die Schuld auf die vier Landessprachen zu schieben – auch hierzulande steht man nur allzu oft vor Sprachproblemen.

Ein Beispiel: Vor einiger Zeit interviewte eine SRF-Reporterin den Lausanner Filmregisseur Jean-Stéphane Bron zu seinem neuesten Dokumentarfilm. Sie sprachen auf Englisch.

"Normalerweise wollen SRF und die Tagesschau, dass Interviews in der jeweiligen Landessprache geführt werden", erklärt die Journalistin Uta Kenter. Sie war jedoch in Deutschland aufgewachsen und hatte das Gefühl, dass ihre Französischkenntnisse nicht ausreichten für das Gespräch. Bron empfand offensichtlich dasselbe für sein Deutsch.

"Sehr oft stellen wir Fragen auf Englisch und der Gesprächspartner antwortet in seiner Landessprache. In diesem Fall war das leider nicht möglich", sagte sie.

Da Brons Äusserungen unabhängig davon, ob er Englisch, Französisch oder eine andere Sprache spricht, ins Deutsche synchronisiert worden wären, gab es für das Publikum in der Praxis keinen Unterschied. Theoretisch wirft es jedoch interessante Fragen über die Rolle und den Status des Englischen in der Schweiz auf. Erstens: Nimmt die Verwendung des Englischen als sprachliche Brücke tatsächlich zu?

"Anekdotisch gesehen sind wir uns wohl alle einig, dass Menschen mit unterschiedlichem sprachlichen Hintergrund in der Schweiz dazu neigen, Englisch als Lingua franca zu benutzen", sagt Franz Andres Morrissey, Dozent für englische Linguistik an der Universität Bern.

Morrissey verwies dabei auf eine Studie von Mercedes Durham, Soziolinguistin an der Universität Cardiff, aus dem Jahr 2003, die den E-Mail-Verkehr zwischen Schweizer Medizinstudent:innen untersuchte und feststellte, dass diese zunächst in ihrer Muttersprache kommunizierten und dann zum besseren Verständnis auf Englisch wechselten.

"Englisch scheint in gemischtsprachigen Gruppen die am leichtesten verständliche und akzeptierte Sprache zu sein, was vor allem daran liegt, dass es für alle eine Nicht-Muttersprache ist", schrieb Durham. Das habe in diesem speziellen Fall vor allem die Italienisch sprechenden Student:innen betroffen, denn da kaum jemand sonst ihre Muttersprache spreche, wüssten sie, wie wichtig es ist, dass die Menschen sich gegenseitig verstehen können.

Aktuell sind die vier Landessprachen wie folgt aufgeteilt: Deutsch wird von etwa 63 % der Bevölkerung gesprochen (die überwiegende Mehrheit davon spricht tatsächlich Schweizerdeutsch), Französisch von 23 %, Italienisch von 8 % und Rätoromanisch von 0,5 %, also von etwa 50.000 Menschen.

Insgesamt verwenden 68 % der über 15-Jährigen mindestens einmal pro Woche mehr als eine Sprache, zeigen die Daten für 2019. Die restlichen 32 % gaben an, nur eine Sprache zu verwenden, ein Rückgang gegenüber 36 % im Jahr 2014. Je älter die Person ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie nur eine Sprache verwendet. Die Umfrage ergab, dass 38 % regelmässig zwei Sprachen verwenden, 21 % drei, 6,4 % vier und 1,7 % mindestens fünf.

Englisch ist die am weitesten verbreitete Nicht-Nationalsprache und wird von 45 % der Bevölkerung in der Schweiz regelmässig gesprochen. Englisch ist im deutschsprachigen Teil des Landes weiter verbreitet als in den italienisch- und französischsprachigen Regionen (46 % gegenüber 37 % bzw. 43 %).

Im Jahr 2019 gaben fast drei Viertel der 15- bis 24-Jährigen an, mindestens einmal pro Woche Englisch zu sprechen, zu schreiben, zu lesen oder zu hören - rund zehn Prozentpunkte mehr als 2014.

Das Osservatorio linguistico della Svizzera italiana (OLSI), das verschiedene Aspekte des Italienischen in der Schweiz erforscht, hat festgestellt, dass der Gebrauch des Englischen am Arbeitsplatz mindestens seit den 90er Jahren landesweit zu- und der Gebrauch der Landessprachen abgenommen hat.

Allerdings "wird Englisch in der italienischen Schweiz derzeit insgesamt weniger genutzt als in anderen Sprachregionen", so die Studie, die sich auf Daten des Bundesamtes für Statistik für 2019 beruft.

Diese Grafik zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Schweizer Arbeitnehmende in der französischen und deutschen Schweiz Englisch als weitere Landessprache sprechen, etwa doppelt so hoch ist, während die Situation in der italienischen Sprachregion viel ausgeglichener ist. Bei Nicht-Schweizer:innen hierzulande ist die Wahrscheinlichkeit sogar noch höher, dass sie am Arbeitsplatz Englisch sprechen.

Laut OLSI ist die geringere Präsenz des Englischen am Arbeitsplatz und die relative Bedeutung der Landessprachen im italienischen Sprachraum "zweifellos" auf das Schulsystem zurückzuführen - vor allem im Tessin, wo die anderen Landessprachen in der obligatorischen Schulzeit Vorrang vor dem Englischen haben (zuerst Französisch, dann Deutsch).

Es erklärte, wenn man in einem Minderheitensprachengebiet arbeitet - und die Arbeit auf nationaler oder interregionaler Ebene stattfindet - dann könnten die anderen Landessprachen nicht ignoriert werden.

"Aus diesem Grund kann man sagen, dass im Tessin im Allgemeinen wenig Bedarf besteht, Englisch als Lingua franca zu verwenden, und dass Kenntnisse in den Landessprachen vorausgesetzt werden können."

Englisch wird also nicht als störender Eindringling gesehen? "Auch wenn wir im Tessin eine gewisse Bedeutung des Englischen in der Berufswelt feststellen, können wir sicher nicht von einem Problem mit dem Englischen sprechen, etwa im Sinne einer realen Gefahr, dass das Englische das Italienische verdrängen könnte."

Aber könnte Englisch das Französische oder Deutsche ersetzen? Laut Durham könnte das im Internet der Fall sein: Wenn man mit einem breiteren, mehrsprachigen Publikum kommunizieren wolle, dann dienten weder Französisch noch Deutsch als Hauptsprache im schweizerischen Kontext.

Auch bei SWI swissinfo.ch, der Informationsplattform für Auslandschweizer:innen, ist die Verständigung naturgemäss ein grosses Thema. SWI hat zehn Sprachabteilungen, die Redaktionssitzungen finden auf Englisch statt. Es ist auch nicht ungewöhnlich, zwei Schweizer Kolleg:innen zu hören, die sich auf Englisch unterhalten. Gemeinsame Sprachen gibt es auch zwischen bestimmten Personen. Da spricht man gern mal mit zwei Mitgliedern der chinesischen Abteilung Deutsch, mit einem anderen Französisch und mit der vierten Englisch.

Morrissey, ein deutschsprachiger Schweizer mit Englisch als Muttersprache, sagte, auch er habe persönliche Erfahrungen mit Englisch als Verkehrssprache gemacht:

"Während meiner Dissertation über die Sprachenwahl im zweisprachigen Unterricht in der Schweiz hatte ich Kontakt mit einer Journalistin. Wir unterhielten uns lieber auf Englisch, weil mein Französisch einfach nicht gut genug ist, und ihr Deutsch auch nicht."

Er erläuterte, dass sich französischsprachige Schweizer:innen in der Regel darüber beschweren, dass sie Hochdeutsch lernen, ihre Landsleute dann jedoch darauf bestehen, Dialekt zu sprechen. "Das ist natürlich ein Anreiz zu sagen: 'OK, vergesst es - wir unterhalten uns in der Sprache, die den gleichen Aufwand für beide Seiten bedeutet'."

2016 schrieb Durham, dass die wichtigste Entwicklung bei der Verwendung des Englischen als Lingua franca darin besteht, mit wem die Schweizer:innen Englisch sprechen.

"Ursprünglich wurde Englisch vor allem mit Touristinnen und Touristen geredet, jedoch in den letzten zwei Jahrzehnten sprach es zunehmend auch untereinander, was es zur Schweizer Sprache werden liess."

Die Schweizer Regierung veröffentlicht bereits Pressemitteilungen in englischer Sprache, aber Englisch als Schweizer Sprache zu bezeichnen, das geht Vielen dann doch zu weit.

Im September 2000 kündigte der Bildungsdirektor des Kantons Zürich an, dass Englisch und nicht Französisch als erste Fremdsprache in den Schulen unterrichtet werden soll. Am nächsten Tag fragte die französische Zeitung Le Temps, ob die Aufnahme von Englisch in den Lehrplan des Kantons das "Ende der Schweiz" bedeute. Mit diesem Satz warnte die Tessiner Politikerin Chiara Simoneschi-Cortesi als Nationalratspräsidentin 2009 davor, was ihrer Meinung nach passieren würde, wenn Englisch die Kommunikationssprache zwischen den Schweizern würde.

Viele Menschen vor allem in den französisch- und italienischsprachigen Landesteilen befürchten, dass der Englischunterricht vor den Schweizer Landessprachen den sozialen Kitt in der Schweiz schwächen oder gar zerstören würde. 

"Dass Englisch nützlich ist, bedeutet nicht, dass es für alles nützlich ist", so das Fazit einer Studie der Universität Genf über Sprachen und Wirtschaft aus dem Jahr 2016. "Um die französischsprachige Schweiz zu verstehen, muss man Französisch sprechen. Um die deutschsprachige Schweiz zu kennen, muss man Deutsch sprechen und zumindest ein wenig Schweizerdeutsch verstehen."

2017 entschieden die Stimmberechtigten im Kanton Zürich, dass Schülerinnen und Schüler weiterhin Englisch ab dem siebten und Französisch ab dem elften Lebensjahr lernen sollen.

Wenn es darum geht, Englisch oder eine Landessprache zu unterrichten, gibt es laut Morrissey - dem Schweizer mit Englischen Wurzeln - grundsätzlich zwei Argumente:

"Eine Argumentation würde lauten: 'Wir sollten uns für Englisch entscheiden'. Und genau so wurde die Debatte in Zürich und anderen Orten geführt", sagt er. Mit anderen Worten: Englisch wird als nützlicher für Deutschsprachige angesehen als Französisch oder Italienisch.

"Das andere Argument, das des nationalen Zusammenhalts, ist ziemlich alt. Inwieweit es tatsächlich stimmt, weiss ich nicht. Ich habe das Gefühl, dass die Schweiz einen ziemlich festen Zusammenhalt hat. Es gibt ein nationalistisches Element, es gibt ein wirtschaftliches Element. Ich glaube nicht, dass die Sprache so eine grosse Rolle spielt, aber es ist eine Art Banner, hinter dem wir uns gerne versammeln", sagte er.

"Es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass das Land auseinander fällt, nur weil jemand in der Schweiz nicht Italienisch oder Rätoromanisch spricht."

Ist es also kein Problem, Englisch zu sprechen? "Ich weiss nicht, ob es ein Problem ist. Wenn es der Kommunikation dient, ist es sicherlich keine schlechte Sache. Es ist vielleicht ein bisschen eine Verarmung des Sprachrepertoires. Aber ich glaube nicht, dass wir irgendetwas tun können, denn die Menschen werden jeden Kommunikationskanal nutzen, der ihnen zur Verfügung steht", sagt Morrissey.

"Ich sage meinen Studentinnen und Studenten jeweils, dass Kommunikation der Inbegriff des Weges des geringsten Widerstandes ist. Man kommuniziert auf die Art und Weise, die am wenigsten Hindernisse schafft."

Englisch als gemeinsame Sprache

Vier Sprachen oder Englisch für alle?

Deutschsprachige Studierende meiden Westschweizer Unis

Susanne Stöckl

https://pilot-prod-videos.s3.eu-west-1.amazonaws.com/de/nasty-bisque-loon_fr_SPEECHMATICS.vtt

Das Interesse in der Deutschschweiz, an einer Universität in der Romandie zu studieren, hält sich offenbar in Grenzen. Laut Zahlen, die die Luzerner Zeitung zusammengestellt hat, sind es 1500 weniger als vor 20 Jahren, während der Anteil der Romands an den Fakultäten in der Deutschschweiz steigt.

So ist der Anteil der deutschsprachigen Studierenden an den Fakultäten der Westschweiz seit 2001 von 10% auf 4 % zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der französischsprachigen Studierenden an den deutschsprachigen Universitäten mehr als verdoppelt.

Demnach verzeichnet die Uni Freiburg innert 20 Jahren 23% weniger deutschsprachige Studentinnen und Studenten, die Universität Lausanne 20% weniger und die Uni Genf verbucht einen Rückgang von 10%. Die EPFL ihrerseits verzeichnete in diesem Jahr nur 24 Anmeldungen für den Bachelor - eine Zahl, die vor fünf Jahren noch doppelt so hoch gewesen war.

Hauptgrund für diese Entwicklung ist, dass Englisch beliebter geworden ist, während Französisch es in der Deutschschweiz weniger ist.

Das sei bedauerlich, aber kaum vermeidbar, meinte Maxime Barthassat, Co-Präsident des Verbands der Schweizer Studierendenschaften, in der Sendung "La Matinale": "Wir leben in einer Welt, in der Englisch immer mehr an Bedeutung gewinnt (...). Wir müssen uns in Richtung Englisch bewegen, uns aber gleichzeitig bewusst sein, dass unsere Mehrsprachigkeit eine Stärke ist, und auf dem gleichen Niveau wie unsere internationalen Kolleginn:en bleiben."

An der Universität Freiburg machen die deutschsprachigen heute ein Drittel der Gesamtzahl der Studierenden aus, wobei diese Zahl rückläufig ist. Um dem entgegenzuwirken, bietet die Universität zahlreiche zweisprachige Studiengänge an und hat viel unternommen, um in der Deutschschweiz Informationen zu verbreiten und neue Studierende anzuziehen.

Rektorin Astrid Epinay ist jedoch besorgt über die aktuelle Entwicklung: "Ich bin überzeugt, dass es ein wesentliches Element für den nationalen Zusammenhalt ist, wenn man die Partnersprache beherrscht, also Französisch für die Deutschsprachigen und Deutsch für die Französischsprachigen."

Eine kürzlich durchgeführte Studie belegt die Bedeutung von Kenntnissen einer zweiten Landessprache für den Arbeitsmarkt: Die Löhne sind um 8-13% höher, wenn man zwei Schweizer Sprachen beherrscht.

Die Kantone müssten sich daher Lösungen ausdenken, um diese Entwicklung aufzuhalten, urteilt Laurent Wehrli, Präsident von Helvetia Latina, die sich für die französische Sprache in den Schweizer Institutionen einsetzt. Der Waadtländer Nationalrat Wehrli findet: Diejenigen, die in der Mehrheit sind, erkennen nicht unbedingt die Notwendigkeit, die Minderheitensprache zu erlernen. "Zudem es ist normal, dass diejenigen, die in der Minderheit sind, dafür empfänglicher sind."

Laurent Wehrli erinnert auch an die Kämpfe, die in Deutschschweizer Kantonen geführt wurden, wo man Französisch zugunsten von Englisch in der Schule abschaffen oder verzögern wollte. "Jedes Mal haben wir es geschafft, eine Botschaft zu vermitteln. Dasselbe gilt nun auch für die Universitätsebene, die diese Botschaft mit Unterstützung der Kantone vermitteln muss."

Der Röstigraben der Universitäten

Mehrsprachigkeit wird gefördert, aber es gibt noch Raum für Verbesserungen

Das 15-Millionen-Budget, von dem etwa die Hälfte ins Tessin und nach Graubünden geht, ist laut der Eidgenössischen Finanzkontrolle gut angelegt. Es fehlt jedoch an einer Gesamtstrategie.

Sandro Bucher

https://pilot-prod-videos.s3.eu-west-1.amazonaws.com/de/gradual-beige-bass_it_SPEECHMATICS.vtt

Die Gesetze werden befolgt, die Verfahren sind angemessen, das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist gut. Die Eidgenössische Finanzkontrolle erteilt sowohl dem Bundesamt für Kultur bei der Vergabe von Mitteln zur Förderung der Mehrsprachigkeit als auch den begünstigten Kantonen, insbesondere dem Tessin und Graubünden, gute Noten. Von den 15 Millionen Franken, die jährlich für die Förderung der Mehrsprachigkeit in der Schweiz bereitgestellt werden, geht etwa die Hälfte an die beiden Kantone zur Förderung und Erhaltung des Italienischen und Romanischen.

Kurz gesagt, das Geld ist gut angelegt, aber - so der Bericht weiter - es kann besser gemacht werden. Und für ein Land, das die Verständigung zwischen seinen verschiedenen Sprachgemeinschaften zu einer wahrhaft existenziellen Aufgabe macht, ist dies kaum Rhetorik.

Fehlen einer Gesamtstrategie und messbarer Ziele

So stellt der jüngste Prüfbericht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) fest, dass es sowohl an einer konkreten Gesamtstrategie als auch an der Definition von messbaren Zielen fehlt, um die Wirkung der Förderung beurteilen zu können.

Das Tessin, das jährlich 2,5 Millionen Franken aus Bern erhält (dazu kommen weitere 8 Millionen Franken an Swisslos-Beiträgen), zeichnet sich durch die Heterogenität der geförderten Organisationen und Projekte aus, deren Mechanismen als angemessen erachtet werden. Doch gerade diese grosse Heterogenität, schreibt die Eidgenössische Finanzkontrolle, sollte das Bundesamt für Kultur dazu veranlassen, die Mittelzuteilung oder die Berechnung der verschiedenen Beiträge kritisch zu überdenken, insbesondere bei den Verlags- und Forschungsbeiträgen. Generell sollte die Verwendung von Subventionen genau überwacht werden, und die Anhäufung der in der Vergangenheit gefundenen Reserven macht das Tessin zu einem besonderen Wächter.

Schliesslich ist die Förderung des Italienischen ausserhalb des Kantons, vor allem in den Schulen, gut bis ausgezeichnet; dasselbe gilt für das Romanische ausserhalb Graubündens. Die Zuständigkeiten verbleiben jedoch bei den Kantonen, und nach Ansicht der Eidgenössischen Finanzkontrolle wäre es angebracht, auf einer breiteren gesetzlichen Grundlage zu bestehen.

Wie fördert man Mehrsprachigkeit?

Diese Frage beschäftigt Historikerinnen und Schriftsteller seit Jahrzehnten. Anlässlich der 1000. Sendung von Couleurs locales, dem täglichen Blick auf die Westschweiz, stellt RTS die Frage: Gibt es die Romandie?

Die französische Sprache – der «Klebstoff» der Romandie

Das Historische Lexikon der Schweiz (DHS) erklärt, dass die Westschweiz «die Kantone Genf, Jura, Neuenburg und Waadt sowie die französischsprachigen Teile der Kantone Bern, Freiburg und Wallis umfasst».

Das DHS stellt daher fest, dass das Französische «der Klebstoff ist, der diese Regionen zusammenhält». Für Mathieu Avanzi, Direktor des Centre de dialectologie et d'étude du français régional an der Universität Neuenburg, besteht die Westschweiz aus «Bezirken, in denen mehrheitlich Französisch gesprochen wird.»

Isabelle Chassot, Freiburger Ständerätin und ehemalige Direktorin des Bundesamtes für Kultur, ist da anderer Meinung: «Die Romandie ist ein geografischer Raum, der sich aus den französischsprachigen Kantonen zusammensetzt. Ich beschränke mich nicht auf die Romandie.» Mathieu Avanzi weist darauf hin, dass die Grenzen der Westschweiz nicht offiziell festgelegt sind: «Wenn man in den Daten nach einer Karte der Westschweiz sucht, findet man nichts.»

Ignazio Cassis, Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft 2022, betont ebenfalls die Bedeutung der Sprache. «Die Romandie ist die mit dem Französischen verbundene Kultur», sagte er in der RTS-Sendung Infrarouge. «Historisch gesehen ist es der Teil der Schweiz, der von Frankreich getrennt ist. La Romandie existiert.»

Die Minderheit – einer für alle, alle für einen

Der Begriff «Suisse romande» wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet, um die kulturelle Autonomie der französischsprachigen Schweiz gegenüber Frankreich und der deutschsprachigen Mehrheit zu betonen.

«Die Deutschschweiz ist aufgrund ihrer Grösse gross genug, um interne Unterschiede zu haben», sagt Ignazio Cassis. «Ihre Unterschiede sind genauso gross wie die Unterschiede zu den Westschweizern und Tessinern.»

1937 schrieb Charles Ferdinand Ramuz in «Besoin de grandeur»: «Wir, die Westschweizer, gehören zu einer kleinen, aber komplexen Republik, deren verschiedene Staaten jeweils auf ihrer eigenen Umlaufbahn um ein abstraktes Zentrum, die Eidgenossenschaft, kreisen. Wir sind nicht 'geeint'. Frankreich ist seit Jahrhunderten zutiefst geeint (...) Wir sind eine Ansammlung von kleinen Ländern, die durch verschiedene Notwendigkeiten lose zusammengehalten werden: geografisch, militärisch, wirtschaftlich.»

«Korsika zum Beispiel definiert sich in Opposition zu Frankreich», betont Ständerätin Isabelle Chassot. «Ich definiere mich als Freiburgerin, als französischsprachige Frau, aber vor allem als Schweizerin. Es gibt keine Opposition. Das ist ein bisschen wie bei den russischen Matrioschka. Jedes Mal, wenn man eine öffnet, kommen andere Eigenschaften zum Vorschein.»

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Westschweiz als Ganzes wahrgenommen. Die Sympathien der Schweizer für die kriegführenden Länder, die den Konturen der Sprachgrenze folgten, verursachten innenpolitische Spannungen, den Röstigraben, erklärt das DHS. «Das Konzept der französisch-, italienisch- und deutschsprachigen Schweiz wurde in Bezug auf potenzielle Feinde aus den Nachbarländern definiert, die uns hätten 'zerreissen' können», erklärt der Historiker Philippe Bender.

Für den Komiker und Schauspieler Vincent Kucholl fehlt es in der Westschweiz an Mythen wie Wilhelm Tell. Solche Symbole würden dazu beitragen, die Westschweiz zu vereinen. Er erklärt auch, dass die Romands in der Armee als solche identifiziert werden, und zwar durch die Augen der deutschsprachigen Bevölkerung. Zudem ist es oft die Selbstironie, die die französischsprachigen von den deutschsprachigen Schweizern unterscheidet.

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Die Medien – die «grundlegende» Rolle des RTS

Antonio Fumagalli, NZZ-Korrespondent in der Westschweiz, ist der Meinung, dass die Deutschschweiz weniger Bedarf hat, «die Beziehungen zu stärken.» Als die «Weltwoche» 2012 einen Artikel unter der Überschrift «Die Romands sind die Griechen der Schweiz» veröffentlichte, zeigte sich die Romandie geeint.

Der Journalist erklärt auch, dass es in der französischen Schweiz eine «Bereitschaft gibt, über sich selbst zu sprechen.» Er nimmt das Beispiel der 19h30 von RTS. Er stellt fest, dass die wichtigste Nachrichtensendung in der Westschweiz sich mehr auf das aktuelle Geschehen im französischsprachigen Teil des Landes konzentriert, im Gegensatz zu ihrem deutschsprachigen Pendant, der «Tagesschau», die sich mehr auf internationale Themen konzentriert.

«Die Westschweiz, das sind alle Menschen, die Westschweizer Radio hören, Westschweizer Fernsehen schauen oder Lose der Westschweizer Lotterie freirubbeln», sagt der Komiker Vincent Kucholl mit einem Lächeln.

Isabelle Chassot, Mitglied des Freiburger Ständerats, stimmt dem zu: «Das Gefühl der Zugehörigkeit basiert auf einer Reihe von gemeinsamen Werten, Debatten, die wir gemeinsam führen, Themen, die wir teilen. Diese gemeinsamen Werte ergeben sich aus den Referenzen, die wir haben, und Radio Télévision Suisse Romande spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die Tatsache, dass die Verteilung der SRG-Mittel in Frage gestellt wird, sollte uns zu denken geben. Vielleicht ist das unser gemeinsamer Bezugspunkt.»

Existiert die Romandie?

Das Rätoromanische feiert ein Comeback im Schweizer Parlament

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Die vierte Landessprache der Schweiz ertönte im Nationalratssaal bei der Wahl des neuen Präsidenten Martin Candinas, der sich in romanischer Sprache an die Abgeordneten wandte. Während seines Jahres als höchster Schweizer ist er entschlossen, dem Romanischen einen besonderen Platz einzuräumen.

Seit über 35 Jahren hat es keinen romanischsprachigen Nationalratspräsidenten mehr gegeben. Die Berufung von Martin Candinas in dieses Amt ist daher ein Ereignis für die Region und die 60.000 romanischsprachigen Bürgerinnen und Bürger. Der 42-jährige Mitte-Politiker hat versprochen, während seiner Amtszeit immer wieder auch seine Muttersprache zu sprechen.

<blockquote class="twitter-tweet" data-width="550" data-lang="fr"><p lang="de" dir="ltr">Cordial engraziament! Ich freue mich sehr auf mein Präsidialjahr und bedanke mich bei meinen Ratskolleginnen und -kollegen für ihr Vertrauen. Mein Leitsatz als Nationalratspräsident: «Gemeinsam – Ensemble – Insieme – Ensemen». Nur gemeinsam bringen wir die Schweiz weiter! <a href="https://twitter.com/hashtag/parlCH?src=hash&amp;ref_src=twsrc%5Etfw">#parlCH</a> <a href="https://t.co/z0pAVkCQAm">pic.twitter.com/z0pAVkCQAm</a></p>&mdash; Martin Candinas (@martin_candinas) <a href="https://twitter.com/martin_candinas/status/1597314971180101632?ref_src=twsrc%5Etfw">28 novembre 2022</a></blockquote>
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Am 7. Dezember wird Martin Candinas auch die Namen der beiden neuen Bundesräte in romanischer Sprache bekannt geben, sagte er. Dies sei eine Ehre und der Höhepunkt seiner Amtszeit.

Allerdings werden nicht alle Debatten auf Rätoromanisch geführt: Sobald es ans Eingemachte geht, wird der Bündner Vertreter wieder ins Deutsche wechseln. Der Grund dafür ist, dass es keine Dolmetscher in den anderen drei Landessprachen gibt, die für die übrigen Mitglieder des Nationalrats übersetzen könnten.

Adrian Camartin ist seit zehn Jahren als Journalist bei Radiotelevisiun Svizra Rumantscha tätig. Für ihn ist dieses Jahr der Präsidentschaft eine Gelegenheit, die romanische Sprache unter den Politikerinnen und Politikern zu fördern: «Es wird ihnen bewusst machen, dass diese Sprache im Alltag verwendet wird, bei der Bäckerei oder der Post. Es handelt sich nicht um etwas Exotisches oder Folkloristisches.»

Für den Journalisten findet das Romanische immer dann seinen Platz, wenn die Schweiz ihre Mehrsprachigkeit, ihre Verbundenheit mit ihren vier Sprachen und ihren nationalen Zusammenhalt hervorheben will, aber das reicht nicht aus: «Man muss bedenken, dass es 60'000 Menschen gibt, die Romanisch sprechen.»

Romanisch ist eine Sprache, die oft in Vergessenheit gerät, auch in der Bundesverwaltung. Das jüngste Beispiel war im Oktober, als der Bundesrat seinen Instagram-Account lancierte: Die Regierung präsentierte sich auf Französisch, Italienisch, Deutsch und Englisch, aber nicht auf Rätoromanisch. Ein Fehler, der schliesslich von der Verwaltung korrigiert wurde.

Für die Lia Rumantsch, den Verein zur Förderung der romanischen Sprache und Kultur, ist dieses Versäumnis jedoch symptomatisch. Ihr stellvertretender Sekretär Andreas Gabriel rechnet daher in diesem Jahr mit einer Neubewertung des Rätoromanischen, das in den öffentlichen Diensten oft nicht vertreten ist: «Die Post, die SBB oder auch andere Sektoren kommunizieren immer in drei Sprachen: Deutsch, Französisch und Italienisch - aber nicht in vier.»

Das Gesetz verlangt von der Bundesverwaltung, dass sie unter ganz bestimmten Umständen das Romanische verwendet. Zum Beispiel bei der Interaktion mit romanischsprachigen Personen oder in «wichtigen» Texten. So müssen beispielsweise die Unterlagen zu eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen in romanischer Sprache veröffentlicht werden. Der öffentliche Dienst ist jedoch nicht verpflichtet, die romanische Sprache zu verwenden.

Andreas Gabriel hofft, dass dieses Jahr der Präsidentschaft das Thema voranbringen wird: «Es wird das Bewusstsein für dieses Thema in der Bundesverwaltung schärfen. Die Verwaltung ist bereit, mögliche Anpassungen vorzunehmen.»

Martin Bundi, der letzte romanischsprachige Nationalratspräsident, forderte 1985 eine Revision des Bundesgesetzes über die Landessprachen. Sie führte damals zu einer Stärkung des Romanischen in der Schweiz und auch in Graubünden.

Die Rückkehr des Rätoromanischen in Bern

Fünf Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Schweiz kamen am Gotthard zusammen, um Lieder aus den verschiedenen Regionen neu zu interpretieren und ein neues mehrsprachiges Lied zu komponieren.

Simone Fassora

Fünf Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Schweiz zelebrierten die Mehrsprachigkeit, indem sie am Gotthard auftraten und verschiedene Lieder aus den vier Sprachregionen neu interpretierten. Die Künstler haben auch ein Lied komponiert, das alle nationalen Idiome und das Spanische vereint: «Brume, niebla, Nebel, nebla, nebbia». Ihr Projekt war Teil der Radioinitiative «Die Anderen - Les autres - Gli altri - Ils auters» im Rahmen des Projekts «Chantez-vous Suisse?» und fand vom 26. bis 30. Juni statt.

Die Deutschschweiz wurde durch den Berner Liedermacher Christoph Trummer und die Romandie durch den Walliser Sänger Marc Aymon vertreten. Die Tessiner Musikerin Chiara Dubey vertrat die italienische Schweiz und der Liedermacher, Musiker und Komponist «Mattiu» (Mattiu Defuns) die rätoromanische Schweiz. Schliesslich nahm die schweizerisch-dominikanische Rapperin und Singer-Songwriterin «La Nefera» (Jennifer Perez) im Namen der Bevölkerung mit Migrationshintergrund teil.

Das Projekt öffnet ein echtes kulturelles und musikalisches Fenster zu den verschiedenen Sprachregionen und hebt Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervor. Mehrere nationale Radiosender übertrugen die Aufführung, vor der die Künstlerinnen und Künstler die Verwirklichung ihres musikalischen Projekts erläuterten.

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06/30/2023: Ein Lied für alle Schweizerinnen

Musik, die die Mehrsprachigkeit feiert

"Die Tatsache, dass Rätoromanisch eine Landessprache ist, überrascht"

Es ist das erste Mal, dass die romanische Woche im Kongo gefeiert wird. Das zentralafrikanische Land hat fünf Landessprachen. Nach Angaben des Schweizer Botschafters Chasper Sarott werden jedoch mehr als 380 Sprachen gesprochen.

Anlässlich der romanischen Woche besuchte der Botschafter aus Sent im Unterengadin die Universität Kinshasa und erläuterte die Schweiz, ihre direkte Demokratie und ihren Föderalismus am Beispiel des Romanischen.

«Dass eine Minderheit den Status einer Landessprache erhält, kommt für viele überraschend», sagt Sarott, «vor allem die politische und öffentliche Akzeptanz des Rätoromanischen als eine der Landessprachen der Schweiz. Eine Rechtsgrundlage für eine Minderheit ist eher die Ausnahme als die Regel.»

Er versuchte zu zeigen, dass eine Minderheit ein Gewinn für ein Land ist. «Und das Rätoromanische ist eine Sprache und eine Kultur, mit der man die Schweiz gut repräsentieren kann», sagt der Botschafter. Als Rätoromanin oder Rätoromane seien sie das ganze Jahr über eine Botschafterin oder ein Botschafter der Sprache, nicht nur während der romanischen Woche.

Die romanische Woche beginnt jedes Jahr am 20. Februar. Dies ist der Tag, an dem Rätoromanisch zur offiziellen Sprache der Schweiz wurde (20. Februar 1938).

Mehrere Schweizer Botschaften in der ganzen Welt organisieren während der Woche Aktivitäten rund um die romanische Sprache. Auch in der Schweiz werden verschiedene Kampagnen durchgeführt, um das Romanische bekannter zu machen.

Die erste romanische Woche fand 2021 statt. Ziel der Woche ist es, das Bewusstsein für die romanische Sprache zu stärken. Die Initiative für diese Woche ging vom Departement für auswärtige Angelegenheiten aus, mit Unterstützung der Lia Rumantscha und des Kantons Graubünden.

Warum der Kongo das Rätoromanische feiert

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Deutsch, Französisch, Italienisch und Romanisch machen einiges auch komplexer. In der Schweiz gewinnt aber die englische Sprache immer mehr an Bedeutung.

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