Warum melden sich Tessiner Opfer nicht?
Trotz grosser Präsenz der Kirche im Tessin gibt es nur wenig Fälle

Fabiola Gnesa, Vorsitzende der Diözesen-Expertenkommission
tipress
Fünf Fälle in knapp 15 Jahren - das sind bemerkenswert wenig, wenn man bedenkt, dass die römisch-katholische Kirche im Tessin viel stärker präsent ist als in der Deutsch- oder Westschweiz. Eine kirchenunabhängige Anlaufstelle für die Opfer sexueller Gewalt innerhalb der Kirche gibt es in der Südschweiz hingegen nicht. Die Zürcher Forschenden sprachen von einer starken Zurückhaltung auf Seiten der Opfer. Dies bestätigt auch Fabiola Gnesa, Richterin und Vorsitzende der Diözesan-Sachverständigenkommission gegenüber RSI: "Jedes Jahr musste ich Daten an die nationale Kommission schicken und wurde gefragt, warum es keine aus dem Tessin gibt". Sie erklärt diese Zurückhaltung mit einem "kulturellen Problem": "Ich glaube nicht, dass wir uns dafür entschuldigen müssen", dass wir die Betroffenen nicht dazu gebracht haben, sich an das Gremium zu wenden, sagt sie, räumt dann aber ein: "Wir haben die Aufgabe, Zeugenaussagen aufzunehmen, wir können nicht auf die Suche gehen, das sind nun mal unsere Richtlinien. Sicherlich kann und wird aber noch mehr getan werden." Die Experten betonten, wie wichtig es ist, dass diese Kommissionen wirklich als unabhängig wahrgenommen werden. "Wir haben uns sehr darum bemüht, nach aussen hin eine gewisse Transparenz zu schaffen, und vielleicht hat genau das bisher gefehlt", räumt Gnesa erneut ein.
Die Kommission sei zwar mit der Diözese verbunden, habe aber immer "transparent und autonom" gearbeitet, erinnert sie. Den Opfern stehen aber auch andere Wege offen, wie zum Beispiel die Opferhilfe des Kantons Tessin (LAV): Der apostolische Administrator, Monsignore Alain De Raemy, hat darum gebeten, bei Meldungen in der Kirche ein offenes Ohr zu haben. Und er kann ein Dossier bis zur Zürcher Entschädigungskommission bringen, ohne die Diözese zu informieren.
Die Schwierigkeit, mögliche Fälle im Tessin zu identifizieren, hängt auch mit der Verwaltung der Archive der Diözese Lugano zusammen. Die Forschenden fanden Kisten mit Dokumenten, die "summarisch nach Themen sortiert" waren. Aber nicht nur das: In den geheimen Archiven sind Dokumente zu sexuellem Missbrauch, aber auch zu in den Augen der Kirche problematischem Verhalten, wie Beziehungen zu erwachsenen Frauen und Männern, aufgrund der Archivierungspraxis bruchstückhaft, was die Rekonstruktion von Fällen erschwert. In mehreren Quellen wird auch die Vernichtung von Dokumenten ohne die vorgeschriebene Zusammenfassung vorgeschlagen. Es wird berichtet, dass 1995 laut einem Schreiben des Generalvikars an den apostolischen Nuntius ein Priester vom damaligen Bischof Eugene Corecco angewiesen wurde, Dokumente über sexuellen Missbrauch zu verbrennen. Der betreffende Priester leugnete jedoch, als er von den Forschern kontaktiert wurde, den Sachverhalt, "so dass es unmöglich ist, die Vernichtung der Dokumente mit Sicherheit zu bestätigen".
