Missbrauch und die Kirche: Was in der Schweiz geschah

Mehr als tausend dokumentierte Fälle von sexuellem Missbrauch in der Schweiz in einer einjährigen Studie – Kritik am Fallmanagement der Diözesen

Vertuschung von Fällen, Versetzung von Priestern, Vernichtung sensibler Dokumente, Nichtanhören von Zeugenaussagen, Beschuldigung oder Isolierung von Opfern, Schweigen: Die 136 Seiten des "Berichts zum Pilotprojekt zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Kontext der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts", der am 12. September veröffentlicht wurde, zeigen ein sehr klares Bild davon, wie die sechs Schweizer Diözesen und die römisch-katholische Kirche in der Schweiz grundsätzlich im Laufe der Jahrzehnte mit Missbrauch in religiösen Institutionen umgegangen sind. Und keine der sechs nationalen Diözesen schneidet gut ab.

Es handelt sich um eine nationale Premiere: Noch nie wurde eine die ganze Schweiz umfassende Studie vorgelegt, die von einem unabhängigen Forschungsteam durchgeführt wurde, das rund 20 Archive von Institutionen innerhalb und ausserhalb der katholischen Kirche konsultierte und Zehntausende von Seiten an Dossiers sammelte, las und teilweise analysierte, um seinen Bericht zu verfassen. Das Forschungsteam führte auch ein Dutzend Interviews mit Personen, die Opfer von sexuellem Missbrauch geworden waren.

Eine enorme Arbeit, die ein Jahr dauerte und in der 1.002 Missbräuche, nicht nur von Minderjährigen, identifiziert und teilweise analysiert wurden. "Das Pilotprojekt in der Schweiz wurde spät durchgeführt", heisst es, "aber mit einem aussergewöhnlich umfassenden Ansatz." Die analysierten Dokumente sind in der Tat zahlreich und betreffen auch Bildungseinrichtungen, Kirchengemeinden, Waisenhäuser und Verbände für Kinder und Jugendliche.

Insgesamt wurden 510 beschuldigte Personen und 921 Missbrauchsopfer ermittelt. In 39 Prozent der Fälle war die misshandelte Person weiblich, in knapp 56 Prozent männlich, während in 5 Prozent der Fälle das Geschlecht anhand der verfügbaren Quellen nicht bestimmt werden konnte. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Angeklagten ausschliesslich Männer. Aus den analysierten Akten geht hervor, dass es in 74 Prozent der Fälle um sexuellen Missbrauch von Minderjährigen, einschliesslich Säuglingen, ging. Im Bereich der Seelsorge (die Arbeit von Priestern und anderen kirchlichen Mitarbeitern) gab es mit 50 Prozent die meisten Übergriffe.

Die erste Schweizer Organisation für Opfer von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche wurde 2010 gegründet, als Folge der Skandale, die Jahrzehnte zuvor in den USA und in Irland aufgedeckt wurden. Eine Welle, die nicht mehr aufhörte, die die Kirche überrollte und sie zwang, eine Politik der grösseren Transparenz zu betreiben.

Die Transparenz wird jedoch beispielsweise durch das kanonische Recht, das Rechtssystem der Kirche, das unter anderem die Aufbewahrung von Dokumenten innerhalb kirchlicher Einrichtungen regelt, beeinträchtigt. Dieses Gesetz sieht ein geheimes Archiv vor, in dem die Akten von kirchlichen Strafverfahren aufbewahrt werden und zu dem nur der Bischof Zugang hat. Diese Akten können dann vernichtet werden, "wenn die Straftäter verstorben sind oder wenn solche Fälle seit einem Jahrzehnt mit einer Verurteilung abgeschlossen sind, wobei eine kurze Zusammenfassung des Sachverhalts aufbewahrt wird."

Eine Anomalie, die sich in Lugano gezeigt hat, ist das Fehlen eines organisierten Archivs für die Dossiers der Tätigkeit der diözesanen Expertenkommission "Sexueller Missbrauch in der Kirche", "eine Tatsache, die wahrscheinlich auf die begrenzte Anzahl der von der Kommission selbst behandelten Fälle zurückzuführen ist." Von 2016 bis heute haben vier Personen mit der Kommission Kontakt aufgenommen. Eine so geringe Zahl, dass die Forschenden zu dem Schluss kommen, dass es sich um eine "weit hergeholte" Zahl handelt, die "auf eine starke Zurückhaltung der Betroffenen hinweist, Missbrauch anzuzeigen." Zudem fehlt es im Tessin im Vergleich zur übrigen Schweiz an Opferhilfevereinen.

Eine Zurückhaltung, die jedoch nicht nur im Tessin, sondern im ganzen Land zu beobachten ist. Den Opfern fällt es schwer, ihr Leid zu melden. Sie haben Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, einige wurden von Kirchenmitarbeitern "verleumdet". In dem langen Bericht wird auf die Schwierigkeiten und die Scham von Familienmitgliedern hingewiesen, Missbrauch zu melden, zum Teil deshalb, weil häufig ein Verhältnis der Dankbarkeit oder des Wohlwollens gegenüber dem Missbraucher bestand. Zum Modus Operandi der Kirche gehörte damals auch die Praxis, kirchliche Vertreter in die Schweiz ein- und ausreisen zu lassen, um Missbrauchsfälle zu vertuschen.

Für die Zukunft haben die Forschenden eine Liste von Vorschlägen erarbeitet, die die Einrichtung von kirchenunabhängigen Beratern, die Bewahrung von Dokumenten, mehr Ressourcen für Archivare, den Zugang zu Archiven für alle und neue Studien zum Thema beinhalten.

Das Dokument ist das Ergebnis einer Vereinbarung zwischen der Schweizer Bischofskonferenz, der Konferenz der Ordensgemeinschaften und anderer Gemeinschaften des geweihten Lebens, der Römisch-katholischen Zentralkonferenz der Schweiz und dem Historischen Seminar der Universität Zürich.

Missbrauch: Was in der Schweiz geschah

Missbrauch in der Kirche: "Ich verleugnete mein Leben, um es so gut wie möglich zu leben"

Susanne Stöckl

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Eine Studie der Universität Zürich hat über 1.000 Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in der Schweiz seit 1950 dokumentiert. Christiane Marmy ist eines dieser Opfer. Sie spricht über ihre Erfahrungen bei RTS.

Als Teenager zogen die Eltern von Christiane Marmy nach Lausanne und baten einen sehr guten Freund der Familie, einen Priester, sie als Internatsschülerin aufzunehmen, damit sie ihr Schuljahr in Freiburg beenden konnte.

"Mehrere Abende in der Woche kam er. Er wusste, wo mein Zimmer war", sagt sie. "Es war immer im Schlafzimmer, nachts, wo der Missbrauch stattfand."

Christiane Marmy war zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt. "Ich hatte so ein unschuldiges Gesicht, das sich dem Leben öffnete", sagt sie, während sie sich alte Fotos ansieht. "Es ist, als würde man eine Blume plündern, die sich gerade öffnet, wenn sie blüht".

Die Misshandlungen fanden immer im Schlafzimmer statt, und zwar nachts.

Drei Monate lang war Christiane Marmy von diesem Priester "regelrecht in den Bann gezogen". Damals erzählte sie jedoch niemandem davon.

"Ich kann mich nicht erinnern, dass er mir gesagt hätte, ich solle schweigen. Ich konnte mir nicht vorstellen, darüber zu sprechen", erinnert sie sich.

Der Status der Unberührbarkeit von Priestern

Die Rentnerin erklärt ihr Schweigen mit dem hohen Stellenwert, den Priester in der Gesellschaft vor 60 Jahren hatten, als die Ereignisse stattfanden.

"Damals war es eine Gesellschaft des Christentums, Priester waren bekannt, sie wurden als Götter angesehen", erklärt sie.

Christiane Marmy lebte jahrelang in Verleugnung. "Ich möchte mein Leben so gut wie möglich leben", erklärt sie.

Doch 2008 fällt ihr in einer harmlosen Diskussion alles wieder ein. Sie erzählt ihrer Schwester davon, die ihr erzählt, dass sie ebenfalls von demselben Priester missbraucht wurde, aber viel länger.

Im Jahr 2020 wandten sich die beiden Schwestern an Bischof Charles Morerod, der ihnen seine volle Aufmerksamkeit schenkte und ihnen Einsicht in die Akte ihres Angreifers gewährte. Sie finden heraus, dass der Priester bereits um 1955 des Missbrauchs beschuldigt wurde, bevor er sich ihnen zuwandte.

"Er hatte schon vorher Probleme gehabt. Es gab eine Denunziation durch eine Familie, die nie befolgt wurde", erklärt Christiane Marmy.

Sie ist sich zwar sicher, dass "die Diözese zum jetzigen Zeitpunkt Alarm schlagen würde", aber diese Situation verstärkt das Bild, dass die Kirche über dem Gesetz steht.

Es gibt jedoch Mechanismen, um die Angelegenheit vor Gericht zu bringen. Priester und Bischöfe können wie alle anderen von den Justizbehörden belangt werden.

Straftaten gegen die sexuelle Integrität werden theoretisch auch von Amts wegen verfolgt, ohne dass eine Anzeige des Opfers erforderlich ist.

Schliesslich sieht das Kirchenrecht vor, dass der Verdacht auf sexuellen Missbrauch den zivilen Behörden gemeldet werden muss, wenn die Gefahr besteht, dass er sich wiederholt.

Die Zahl der eingeleiteten Gerichtsverfahren ist jedoch im Vergleich zur Zahl der gemeldeten Missbrauchsfälle sehr gering.

Dies ist darauf zurückzuführen, dass es für die Opfer schwierig ist, sich zu äussern, dass Verjährungsfristen gelten und dass in der Kirche im Allgemeinen eine Kultur der Geheimhaltung herrscht.

Zu dieser Zeit waren die Priester im gesellschaftlichen Kontext des Christentums gut bekannt und wurden als Gott angesehen.

Der Bericht der Universität Zürich zeigt, dass die katholische Kirche die Opfer ignoriert, die Täter gedeckt und die belastenden Archive vernichtet hat, was die Frage nach der rechtlichen Verantwortung der Kirche neu aufwirft.

In Bern werden die gewählten Vertreterinnen und Vertreter über die Frage diskutieren, ob die Kirche für die Handlungen ihres Personals verantwortlich ist. Sie könnte daher für die von ihren Priestern und Bischöfen begangenen Missbräuche verantwortlich gemacht werden.

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Im Fall von Christiane Marmy und ihrer Schwester wurde ihre Klage zwar gehört, aber da der Angreifer gestorben ist, wird es nie zu einem Prozess kommen. Beide erhielten jedoch eine finanzielle Entschädigung von 20.000 Franken.

"Meine Schwester starb ein paar Monate später", sagt Christiane Marmy. "Sechzig Jahre Schweigen, dann, kurz vor dem Tod, die Erkenntnis. Es war ein Schrei der Befreiung."

Deshalb ermutigt Christiane Marmy nun andere Opfer, Hilfe zu suchen, insbesondere bei der Groupe de soutien aux personnes abusées dans une relation d'autorité religieuse (SAPEC), einer Unterstützungsgruppe für Personen, die in einer religiösen Autoritätsbeziehung missbraucht wurden.

"Mit SAPEC möchten wir allen Opfern die Möglichkeit geben, sich zu äussern, und sie werden gehört", erklärt sie.

60 Jahre langes Schweigen, dann, kurz vor dem Tod, Anerkennung. Es war ein Schrei der Befreiung

Die SAPEC hat es ihr ermöglicht, andere Opfer zu treffen, von denen die meisten jede Verbindung zur Kirche abgebrochen haben. Christiane Marmy versteht sie, aber ihr Glaube ist ungebrochen.

"Es ist ein Teil meiner Geschichte, und ich denke, es ist wichtig, dass ich mit all der Hilfe, die ich erhalten habe, diese Geschichte noch einmal in aller Ruhe lesen und meinen Weg in aller Ruhe fortsetzen kann", sagt sie abschliessend.

Das Zeugnis eines Opfers

Das sagt Bischof Joseph Bonnemain zu den Massnahmen der Kirche

Historikerinnen und Historiker haben schweizweit die Archive der römisch-katholischen Kirche durchforscht, mit besonderem Augenmerk auf sexuelle Übergriffe. Die Untersuchung brachte von 1950 bis heute 1002 Missbrauchsfälle zutage. Bischof Joseph Bonnemain zu den Massnahmen der Kirche.

SRF News: Dass es sexuelle Übergriffe gibt in der katholischen Kirche, ist schon seit Jahrzehnten bekannt. In anderen Ländern hat man schon viel früher hingeschaut, wieso in der Schweiz erst jetzt?

Joseph Bonnemain: Erstens, weil die Schweiz komplex ist. Es gibt viele Kantone und verschiedene Kulturen, die miteinander leben in diesem Land. Wir haben die staatskirchenrechtlichen Organisationen, also die Landeskirchen, die Bistümer und auch die Ordensgemeinschaften. Und wir wollten von Anfang an, dass diese drei Institutionen zusammenwirken in einer solchen Studie. Bis wir alle überzeugt haben, das zustande zu bringen, hat es Zeit gekostet und Überzeugungskunst. 

Wir brauchen unbedingt einen radikalen Kulturwandel.

Gleichzeitig brauchen wir unbedingt einen radikalen Kulturwandel. Also dass nicht mehr die Institutionen, die Kirche und der gute Ruf im Mittelpunkt stehen und noch weniger die Täter, sondern die Opfer und die Menschen. Wir brauchten Zeit, um diesen Kulturwandel selber zu vollziehen. 

SRF News: Eine Vorstudie hat 1002 Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in der Schweiz dokumentiert. Und Historikerinnen sagen, das ist nur die Spitze des Eisbergs, da werde noch viel mehr kommen.

Joseph Bonnemain: Die Forschenden haben weitere Opfer ermutigt, sich zu melden und auch Menschen, die Kenntnisse haben von solchen Übergriffen. Daher wird es so sein, dass sich bestimmt viele melden.

Solche Übergriffe hinterlassen Wunden, ein Leben lang. 

Aber das ist gut. Wir müssen da sein für die Menschen, vor allem für die Schwächsten, für die Bedürftigsten, für die Vernachlässigten, für all diese Menschen, die Wunden mit sich tragen. Denn solche Übergriffe hinterlassen Wunden, ein Leben lang. 

SRF News: Die Kirche hat jahrzehntelang Täter- statt Opferschutz betrieben und Fälle systematisch vertuscht. Was machen Sie jetzt ganz konkret für die Opfer? 

Joseph Bonnemain: Wir haben konkrete Massnahmen beschlossen. Erstens wird eine schweizweite unabhängige Meldestelle professionell eingerichtet, damit Opfer sich mühelos melden können und dort betreut, begleitet und unterstützt werden. 

Die Zulassungsbedingungen für jene, die später in der Seelsorge wirken möchten, werden sehr streng.

Zweitens werden die Zulassungsbedingungen für jene, die später in der Seelsorge wirken möchten, sehr streng. Wir werden für die ganze Schweiz Standards für psychologische Tests festlegen. Wir werden die Personaldossiers professionalisieren, damit alles, was zu den Akten von den Wirkenden in der Kirche festgehalten wird und nichts verloren geht. Wenn die Leute die Stelle zwischen Bistümern wechseln, sollen ihre Dossiers weitergegeben werden können. Zudem werden wir verhindern und verbieten, dass Akten aus den Archiven vernichtet werden. Das wurde bereits umgesetzt.

SRF News: Es wird also vor allem Prävention gemacht. Aktuell stehen aber mehrere amtierende Bischöfe in der Kritik. Sie sind jetzt als Bischof beauftragt, diese Fälle zu prüfen. Sollte das nicht eine externe Person machen? 

Joseph Bonnemain: Es wäre ideal, wenn das eine unabhängige Person tun würde. Gegenwärtig ist das aber nicht möglich, weil die Gesetzesbestimmungen von 2019 vorsehen, dass dies ein Bischof des Landes macht. Nur aus diesem Grund habe ich sehr ungern den Auftrag angenommen. Ich habe ihn aber mit der Entschlossenheit angenommen, mich von niemandem beeinflussen zu lassen. Ich werde restlos sachgerecht alle Fakten, Akten studieren, Gespräche und Befragungen durchführen und das Ganze am Schluss in einem Bericht festhalten und diesen nach Rom schicken.

Das Gespräch führte Bigna Silberschmidt

Bonnemain zu den Massnahmen der Kirche

Wird die Kirche die Fälle wirklich aufarbeiten?

Was die Bistümer zu den neuen Missbrauchszahlen sagen

Die Veröffentlichung der Pilotstudie zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in der Schweiz hat ein breites Echo ausgelöst. Die Reaktionen im Überblick.

Bischof Büchel räumt Fehler ein:  Der St. Galler Bischof Markus Büchel hat am Mittwoch auf die Ergebnisse der Studie reagiert und Fehler eingeräumt. Die Untersuchungen enthalten zwei Fälle aus St. Gallen. Einer von ihnen betrifft schwerwiegende Übergriffe in einem Kinderheim in Lütisburg, die bis 1988 andauerten. Der andere Fall betrifft einen Priester, dem seit 2002 sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden. Gegen ihn wurde nun Strafanzeige erstattet. Obwohl beide Fälle vor allem in die Amtszeit seines Vorgängers fielen, sei es das Versäumnis von Bischof Büchel gewesen, dessen Ermittlungen nicht zu überprüfen.

Abt von Saint-Maurice lässt Amt ruhen:  Jean César Scarcella, Abt von Saint-Maurice, hat angekündigt, sein Amt vorübergehend niederzulegen, bis die Ermittlungen gegen ihn abgeschlossen seien. Ihm werden sexuelle Übergriffe sowie Vertuschung vorgeworfen. Gegen ihn ermittelt der apostolische Sonderermittler Joseph Bonnemain. Dieser wurde vom Bischofskonzil, der für solche Vorwürfe zuständigen Instanz in Rom, eingesetzt.

Bistum Lugano gelobt Besserung:  Das Bistum Lugano stellte eine «definitive Veränderung» in Aussicht. Laut der Pilotstudie der Historikerinnen und Historiker wurden dort in den 1990er-Jahren zahlreiche Dokumente vernichtet. Zudem sei das Archiv lange Jahre von ungeschultem Personal geführt worden. Es sei für das Bistum Lugano unmöglich, die Schuld in dieser Sache nicht anzuerkennen, sagte der apostolische Administrator des Bistums Lugano, Alain de Raemy. Den Opfern müsse Gerechtigkeit widerfahren. Als konkrete Verbesserung stellte de Raemy die Schaffung einer unabhängigen Meldestelle für sexuelle Übergriffe in Aussicht. Die heute bestehende Kommission für solche Fälle ist Teil des Bistums Lugano selbst.

Plädoyer für einen Kulturwandel:  Der Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, Charles Morerod, hat die Studie der Universität Zürich als «erschütternd» bezeichnet. Der Bericht zeige einmal mehr den schlechten Umgang mit Missbrauchsfällen in der Kirche. «Wir setzen uns für einen Kulturwandel innerhalb der Kirche ein», versicherte Morerod. Ihm selbst wird  laut SonntagsBlick  vorgeworfen, nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle nicht eingeschritten zu sein. Er soll den betreffenden Priester sogar befördert haben. Gegenüber den Medien wollte Bischof Morerod die Vorwürfe nicht weiter kommentieren, da die «Fakten den zuständigen Organen», d.h. der staatlichen und kirchlichen Justiz, vorgelegt worden seien. In die Ermittlungen wolle er sich nicht einmischen. Kurz nach seiner Stellungnahme wurde Morerod ins Spital eingeliefert. Es habe sich um eine Schädelblutung infolge eines Velounfalls vor einigen Monaten gehandelt. Die Operation sei gut verlaufen, teilte das Bistum mit.

Rücktrittsangebot in Sitten:  Bischof Jean-Marie Lovey hat jegliche Kenntnis und Vertuschung von Missbrauchsfällen bestritten. Insgesamt soll es in der katholischen Kirche im Wallis seit 2015 19 Fälle gegeben haben. Sollten ihn die Ermittlungen persönlich belasten, stellte er seinen Rücktritt in Aussicht. «Ich habe kein Dokument aus diesem Bereich in den Archiven vernichtet», versicherte er den Medien.

Das sagen die Bistümer zu den Fällen

Gerichte befassen sich nicht zwingend mit Missbrauchsfällen in der Kirche

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Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche haben aufgerüttelt. Nun steht unter anderem die Frage im Raum, ob die Gerichte diese Fälle aufgreifen werden.

Die überwiegende Mehrheit der Straftaten gegen die sexuelle Integrität wird von Amts verfolgt, das heisst ohne Strafanzeige. Das Problem dabei jedoch ist: Die Angaben zu den Übergriffen sind unvollständig und in der Studie der Universität Zürich nicht enthalten.

Weder die Polizei noch die Justizbehörden können das Datum und den Ort der aufgezeichneten Übergriffe genau bestimmen. Seit der Veröffentlichung der Studie sind keine neuen Fälle bekanntgeworden, abgesehen von denen, die Anfang September von einem ehemaligen Vikar gemeldet wurden. Diese werden derzeit von den Behörden der Kantone Waadt und Freiburg geprüft.

Auch die Forschenden können Missstände melden. Im Vertrag mit der Schweizer Bischofskonferenz für diese Studie hat das Team der Universität Zürich festgelegt, dass es Anzeige erstatten kann, wenn es eine mögliche strafbare Handlung wahrnimmt. Einige der von der Universität Zürich ermittelten Fälle waren jedoch auch bereits Gegenstand eines Strafverfahrens.

Die Medienberichterstattung über diese Studie könnte weitere Anzeigen auslösen, solange die Fakten nicht verjährt sind. Auch Zeugen können Taten melden. In einem solchen Fall würde die Polizei zunächst mit dem mutmasslichen Opfer Kontakt aufnehmen, um ihm mitzuteilen, dass man für ein Gespräch zur Verfügung stehe, sagte der Neuenburger Staatsanwalt am Freitag gegenüber der RTS-Sendung La Matinale.

Das Opfer kann sich jedoch weigern, sich zu äussern. Pierre Aubert räumt ein: "Die Möglichkeit, eine hinreichend solide Anschuldigung" allein "auf die Worte Dritter" zu stützen, wenn Übergriffe oft hinter verschlossenen Türen begangen werden, erscheint schwierig.

Camille Perrier Depeursinge, Professorin für Strafrecht an der Universität Lausanne, unterstreicht im Interview mit La Matinale ebenfalls die Schwierigkeit für die Justiz, mit diesen Missbrauchsfällen umzugehen. Erstens könnten die "Opfer nicht identifiziert oder identifizierbar sein". Und da die Ereignisse möglicherweise in die Vergangenheit zurückreichen, könnten die mutmasslichen Täter betagt oder verstorben sein.

Ausserdem besteht die Gefahr, dass eine betroffene Person in ein Verfahren hineingezogen wird, "das sie nicht will und das für sie sehr schmerzhaft sein könnte". Daher ist es verständlich, dass die Strafverfolgungsbehörden nach der Veröffentlichung des Berichts nicht überstürzt eingreifen", so die Anwältin.

Im Falle eines Missbrauchs, "der natürlich verheerende psychologische Auswirkungen hat", können sich Betroffene zunächst an eine Beratungsstelle für Kriminalitätsopfer wenden, die es in allen Kantonen gibt, erklärt Rechtsanwältin Joëlle de Rham-Rudloff im RTS-Programm Forum. Dazu gehören psychologische Unterstützung und Gutscheine für Rechtsberatung.

Die Bereitschaft, ein Strafverfahren einzuleiten, hänge jedoch von den "Ressourcen" des Einzelnen ab, erklärte die Strafrechtlerin. Während es für manche "wichtig ist, Anzeige zu erstatten, unabhängig vom Ausgang des Verfahrens", kann es für andere eine unerträgliche psychische Belastung sein, die erlittenen Übergriffe immer wieder im Einzelnen aufzählen zu müssen.

Die Geschädigten sind auch einer "sekundären Viktimisierung" ausgesetzt, da ihr Wort in Frage gestellt und der kleinste Widerspruch vorgeworfen wird, "da man sich bei sexuellem Missbrauch keine Notizen macht".

Auch wenn "das Strafverfahren eine Tortur ist", stellt Joëlle de Rham-Rudloff fest, dass sich mit der Einführung eines neuen Gesetzes im Jahr 2007 etwas im Schweizer Justizsystem verbessert hat.

"Dank getrennter Räume und getönter Scheiben werden die Opfer bei ihrer Aussage nicht mehr visuell mit dem Täter konfrontiert." Wenn Kinder angehört werden, "werden sie nach äusserst strengen Richtlinien von speziell ausgebildeten Polizeibeamten angehört", erklärt sie.

Die Expertin betont auch, dass Anwälte ebenso wie die Angestellten der Opferberatungsstellen "dazu da sind, die Menschen in ihren Bemühungen zu unterstützen." Die Staatsanwältinnen und Richter sind zunehmend sensibilisiert, solche Äusserungen entgegenzunehmen und zu analysieren.

Themen im Radio: Anouk Pernet und Robin Baudraz

Justiz untersucht Fälle nicht zwingend

Manche Sexualtäter kommen wohl straffrei davon

Bei den über tausend Fällen von Missbrauch in der katholischen Kirche stellt sich die Frage nach den strafrechtlichen Folgen

Schwere Sexualstrafen sind Offizialdelikte – die Staatsanwaltschaft muss zwingend Ermittlungen aufnehmen, sobald sie konkrete Hinweise auf eine solche Tat bekommt. Doch sie kann das nur machen, wenn die Fälle nicht verjährt sind. 

Zwar verjährt schwerer sexueller Missbrauch an Kindern unter zwölf Jahren nicht mehr – das gilt aber nur für Fälle, die im Jahr 2008 noch nicht verjährt waren. Damals wurde die sogenannte Unverjährbarkeitsinitiative angenommen. 

Von den 1002 in der  Studie zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche  identifizierten Fällen passierten nur 67 in der Zeit zwischen 2010 und 2023. Die meisten ereigneten sich zwischen 1950 und 1970. Folglich sind sie verjährt. 

Verschiedene Staatsanwaltschaften werden aktiv

Trotzdem wird der Staat jetzt nach der Publikation der Studie aktiv. Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen prüft den Bericht derzeit auf mögliche Offizialdelikte, wie sie auf Anfrage von Radio SRF mitteilt. Dasselbe tun die Staatsanwaltschaften der Kantone Wallis und Graubünden. 

Es sei allerdings nicht ganz einfach, die anonymisierten Täter zu identifizieren, heisst es bei der Staatsanwaltschaft Graubünden. Sie hofft deshalb, dass der Bericht die Opfer dazu bringt, eine Strafanzeige zu erstatten. Dies würde die Arbeit erheblich erleichtern. 

Laut der Meldestelle für sexuelle Übergriffe der Schweizerischen Bischofskonferenz kommt es allerdings vor, dass Opfer nicht wollen, dass strafrechtliche Schritte eingeleitet werden. 

Ein Strafverfahren kann sehr belastend und re-traumatisierend sein.

Das kann die Opferhilfeberaterin Agota Lavoyer gut verstehen: «Ein Strafverfahren kann sehr belastend und re-traumatisierend sein.»

Gerade bei sexueller Ausbeutung von Kindern handle es sich oft um Wiederholungstaten, betont sie. Zum Schutz potenzieller weiterer Opfer wäre eine Strafanzeige deshalb wichtig. 

Auch Adrian Loretan, Professor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern, findet es wichtig, dass der Staat tätig wird. Es reiche nicht, dass die Kirche die Fälle selber untersuche. «Nur das staatliche Recht kann ein Unrechtsbewusstsein hervorbringen», ist er überzeugt. 

Die Opfer könnten im kirchlichen Recht nicht geschützt werden, denn im kirchlichen Recht werde nur untersucht, ob eine Vergewaltigung eine Verletzung des Zölibatsgesetz sei. Und das sei zwar eine Sünde, die aber in der Beichte vergeben werden könne. 

So wurden denn auch manche Priester nach Bekanntwerden eines Missbrauchs einfach an einen anderen Ort versetzt. 

Die Publikation der Studie hat nun in St. Gallen zu einem Umdenken in der Kirche geführt. Der Bischof hat eine Strafanzeige gegen einen Priester eingereicht, dem schon vor einigen Jahren Übergriffe vorgeworfen wurden. 

Zwar hat ein kircheninternes Fachgremium den Fall damals untersucht, die Vorwürfe jedoch entkräftet.  Der Bischof räumte nun an einer Pressekonferenz  ein, dass dies ein Fehler gewesen sei und man damals besser die Polizei eingeschaltet hätte. 

Manche Täter kommen wohl straffrei davon

An der Basis der katholischen Kirche rumort es

Laien, die sich jahrelang für die Kirche engagiert haben, üben mittlerweile scharfe Kritik – an Bischöfen und Priestern. Und: Sie verlangen grundlegende Reformen. Sonst sehen sie keine Zukunft für die katholische Kirche.

Markus Greiner engagiert sich seit 16 Jahren in der Kirchenpflege in Aarau – mittlerweile als Präsident der Kreiskirchgemeinde. Nach dem Bericht über die sexuellen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche habe er sich zunächst wie erschlagen gefühlt: «Langsam steigt in mir auch Wut darüber auf, wie lange die Kirche braucht, sich dieser schwierigen, schlimmen Problematik zu stellen.» Es sei auch eine Wut auf die römisch-katholische Kirche selber vorhanden, so Greiner.

Ich kann jeden verstehen, der sagt: ‹Ich trage das nicht mehr mit›.

Wie ihm gehe es vielen Katholikinnen und Katholiken, mit denen er dieser Tage gesprochen habe, sagt Greiner. Und einige wollten noch einen Schritt weitergehen: «Sie können diese Missbrauchsfälle und den Umgang der offiziellen Kirche nicht mehr mittragen und sie überlegen, ob sie austreten.» Er erwarte nun eine eigentliche Welle – und: «Ich kann jeden verstehen, der sagt: ‹Ich trage das nicht mehr mit›.»

Er will sich aber auch weiterhin für die Kirche engagieren und weist darauf hin, dass die Kirche auch Gutes tue, zum Beispiel für Flüchtlinge und arme Menschen.

Neue Strukturen und Abschaffung des Pflichtzölibats

Aber: Die hierarchische Machtstruktur in der katholischen Kirche, die Intransparenz und die Schlechterstellung der Frauen müsse geändert werden. Das sieht auch Hans Hollenstein so, der Präsident der katholischen Kirchenpflege in Winterthur. Er begrüsse zwar, dass der Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain jetzt den Missbrauchsskandal untersuche – es brauche aber möglichst bald neue Strukturen.

Ein Problem sieht Hollenstein bei den Bischöfen. Diese hätten Exekutiv- und richterliche Funktion gleichzeitig: «Es braucht eine unabhängige Untersuchungsbehörde und ein unabhängiges Gericht auf Stufe Bistum.» Den Bischöfen sei es selbst in ihrer Doppelrolle nicht mehr wohl.

Sexualität gehört zum menschlichen Leben – und wenn man das ein Leben lang unterdrücken soll, beispielsweise als Priester, ist das eine unmögliche Aufgabe für junge Männer.

Hans Hollenstein der früher auch Zürcher Regierungsrat für die CVP, die heutige Mitte-Partei war, spricht auch grundlegende Themen an. Für ihn ist nämlich klar: Das Pflichtzölibat müsse abgeschafft werden und die Kirche brauche dringend eine offenere Sexualmoral: «Sexualität gehört zum menschlichen Leben – und wenn man das ein Leben lang unterdrücken soll, beispielsweise als Priester, ist das eine unmögliche Aufgabe für junge Männer.»

Auch Frauen sollen als Pfarrerinnen arbeiten dürfen

Und nicht nur das Zölibat stellt Hollenstein infrage. Er fordert gleichzeitig auch vehement, dass Frauen als Pfarrerinnen arbeiten können. Da könne man von der reformierten Kirche lernen, wo viele Pfarrerinnen eine sehr gute und wichtige Arbeit leisteten.

Diese fast toxische Kombination dieser hierarchischen Machtstrukturen und nur Männern in Machtpositionen – das kann gefährlich sein.

Hier stimmt auch Markus Greiner zu. Die jetzige Situation in der römisch-katholischen Kirche sei unhaltbar. «Diese fast toxische Kombination dieser hierarchischen Machtstrukturen und nur Männern in Machtpositionen – das kann gefährlich sein», ist er überzeugt. Das könne Übergriffe geradezu begünstigen.

Die Forderungen der katholischen Basis sind klar und unmissverständlich. Die Gretchenfrage ist, ob und wie schnell die geistliche Kirchenführung darauf reagieren wird. Sicher scheint: Ohne tiefgreifende Reformen kann die katholische Kirche ihre Glaubwürdigkeit wohl nicht mehr wiederherstellen.

Es rumort an der Basis der Kirche

Steuern der Bischöfe nach Missbrauchsenthüllungen auf dem Prüfstand

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Nach den jüngsten Enthüllungen über sexuellen Missbrauch in der Kirche befürchtet die Zentralkonferenz der Schweizerischen Katholischen Kirche (RKZ), dass sich die Situation nicht ändern wird, wenn sie keinen Druck ausübt. Das Gremium droht, die Steuern für die Bischöfe zu kürzen. Für den Walliser Staatsrat Frédéric Favre müssen die kantonalen Behörden ein Mitspracherecht bei den Aktivitäten der Kirche haben.

"Wir können den Bischöfen nicht mehr zutrauen, dass sie bereit sind, die Strukturen und die Situation ausreichend zu verändern, um den sexuellen Missbrauch einzudämmen", sagt Urs Brosi, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ), gegenüber dem RTS-Programm 19h30.

In der Schweiz ist dies das erste Mal, dass mit Geld Druck auf die Kirche ausgeübt wird. Wenige Tage nach den Enthüllungen zahlreicher Fälle von sexuellem Missbrauch befürchtet die RKZ, dass sich nichts ändern wird.

In der Sonntagspresse verspricht die Zürcher Religionsministerin Jacqueline Fehr, Rechenschaft zu fordern. "Die Bedingungen, die an die staatlichen Beiträge geknüpft sind, sind ein wirksamer Hebel, um das Hinauszögern von Reformen zu beenden", erklärt sie. Laut der Zeitung Blick erhält die katholische Kirche in Zürich das meiste Geld in der Schweiz: fast 165 Millionen Franken pro Jahr.

Die katholische Kirche in der Schweiz sammelt jedes Jahr mehr als eine Milliarde Schweizer Franken. Diese werden hauptsächlich durch Steuern der Bürger und Unternehmen, aber auch durch Beiträge der öffentlichen Hand aufgebracht.

In der französischsprachigen Schweiz werden die Kirchensteuern in den Kantonen Jura, Freiburg und Wallis erhoben. Der Kanton Waadt unterstützt die Kirche finanziell mit einem Teil seiner allgemeinen Steuern. In Genf und Neuenburg sehen die beiden Kantone nur einen freiwilligen Beitrag vor.

Wenn wir finanzielle Unterstützung leisten, können wir mit Recht erwarten, dass sich die aufgedeckten Gräueltaten nicht wiederholen.

Diese finanzielle Hebelwirkung könnte den Politikern ein Mitspracherecht verschaffen. Die katholischen Kantone Wallis und Freiburg, die von 19h30 befragt wurden, reagierten jedoch auf unterschiedliche Weise: "Wenn wir finanzielle Unterstützung gewähren, dürfen wir erwarten, dass sich die aufgedeckten Gräueltaten nicht wiederholen", sagt Frédéric Favre (FDP), Staatsrat und Vorsteher des Departements für Sicherheit, Institutionen und Sport im Wallis. "Wir haben das Recht, Druck auszuüben, auch finanziellen Druck", betont der Minister.

Ein anderer Kanton, eine andere Meinung. Der Freiburger Staatsrat Jean-Pierre Siggen (Die Mitte) ist eher zurückhaltend. Er ist der Meinung, dass die Steuer nicht einfach nur durch Drohungen oder Druck geändert werden kann. "Da der Staat regelmässige Beziehungen zur Kirche unterhält, können wir der besorgten Bevölkerung versichern, dass wir das reibungslose Funktionieren der Kirche und die von ihr getroffenen Massnahmen beobachten", so der Leiter des Finanzministeriums.

Steuern für Bischöfe auf dem Prüfstand

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Missbrauch in der Kirche, warum melden sich Tessiner Opfer nicht?

Die römisch-katholische Kirche ist im Tessin viel präsenter als anderswo. Trotzdem gibt es nur wenige Missbrauchsfälle.

Fünf Fälle in knapp 15 Jahren - das sind bemerkenswert wenig, wenn man bedenkt, dass die römisch-katholische Kirche im Tessin viel stärker präsent ist als in der Deutsch- oder Westschweiz. Eine kirchenunabhängige Anlaufstelle für die Opfer sexueller Gewalt innerhalb der Kirche gibt es in der Südschweiz hingegen nicht. Die Zürcher Forschenden sprachen von einer starken Zurückhaltung auf Seiten der Opfer. Dies bestätigt auch  Fabiola Gnesa, Richterin und Vorsitzende der Diözesan-Sachverständigenkommission gegenüber RSI: "Jedes Jahr musste ich Daten an die nationale Kommission schicken und wurde gefragt, warum es keine aus dem Tessin gibt". Sie erklärt diese Zurückhaltung mit einem "kulturellen Problem": "Ich glaube nicht, dass wir uns dafür entschuldigen müssen", dass wir die Betroffenen nicht dazu gebracht haben, sich an das Gremium zu wenden, sagt sie, räumt dann aber ein: "Wir haben die Aufgabe, Zeugenaussagen aufzunehmen, wir können nicht auf die Suche gehen, das sind nun mal unsere Richtlinien. Sicherlich kann und wird aber noch mehr getan werden." Die Experten betonten, wie wichtig es ist, dass diese Kommissionen wirklich als unabhängig wahrgenommen werden. "Wir haben uns sehr darum bemüht, nach aussen hin eine gewisse Transparenz zu schaffen, und vielleicht hat genau das bisher gefehlt", räumt Gnesa erneut ein.

Die Kommission sei zwar mit der Diözese verbunden, habe aber immer "transparent und autonom" gearbeitet, erinnert sie. Den Opfern stehen aber auch andere Wege offen, wie zum Beispiel die Opferhilfe des Kantons Tessin (LAV): Der apostolische Administrator, Monsignore Alain De Raemy, hat darum gebeten, bei Meldungen in der Kirche ein offenes Ohr zu haben. Und er kann ein Dossier bis zur Zürcher Entschädigungskommission bringen, ohne die Diözese zu informieren.

Die Schwierigkeit, mögliche Fälle im Tessin zu identifizieren, hängt auch mit der Verwaltung der Archive der Diözese Lugano zusammen. Die Forschenden fanden Kisten mit Dokumenten, die "summarisch nach Themen sortiert" waren. Aber nicht nur das: In den geheimen Archiven sind Dokumente zu sexuellem Missbrauch, aber auch zu in den Augen der Kirche problematischem Verhalten, wie Beziehungen zu erwachsenen Frauen und Männern, aufgrund der Archivierungspraxis bruchstückhaft, was die Rekonstruktion von Fällen erschwert. In mehreren Quellen wird auch die Vernichtung von Dokumenten ohne die vorgeschriebene Zusammenfassung vorgeschlagen. Es wird berichtet, dass 1995 laut einem Schreiben des Generalvikars an den apostolischen Nuntius ein Priester vom damaligen Bischof Eugene Corecco angewiesen wurde, Dokumente über sexuellen Missbrauch zu verbrennen. Der betreffende Priester leugnete jedoch, als er von den Forschern kontaktiert wurde, den Sachverhalt, "so dass es unmöglich ist, die Vernichtung der Dokumente mit Sicherheit zu bestätigen".

Warum melden sich Tessiner Opfer nicht?

Missbräuche in der Kirche: So reagieren andere Länder

Die Schweiz hat sich Zeit gelassen mit einer unabhängigen Studie zu sexuellen Missbräuchen im Umfeld der römisch-katholischen Kirche. Das zeigt der Vergleich mit anderen Ländern wie den USA.

2002 enthüllte ein  Journalistenteam des «Boston Globe»  ein System der Vertuschung und Versetzung von Priestern im Erzbistum Boston. Für ihre Recherche wurden sie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Seither ist sexueller Missbrauch durch Kleriker, Ordensleute und kirchliche Angestellte der römisch-katholischen Kirche in der öffentlichen Debatte präsent. Die Aufarbeitung des Themas begann aber schon früher.

USA : 1985 wird der  «Doyle-Report»  veröffentlicht. Darin fanden zwei Priester und ein Anwalt heraus, dass das Erzbistum Boston 10 Millionen Dollar für die Vertuschung von Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker ausgegeben hatte. Die Verfasser des Berichts machten klar, dass es eine transparente Aufarbeitung erfordere, um als Kirche weiterhin glaubwürdig zu sein. 

2004 erschien ein innerkirchlicher Bericht zur Krise der katholischen Kirche in den USA sowie eine  unabhängige Studie , die 10'667 mögliche Fälle von sexuellem Missbrauch und 4’392 Beschuldigte zwischen 1950 und 2002 identifizierte. Die Aufarbeitung trieben insbesondere Anwältinnen und Anwälte voran.

Irland : 1995 löste der Fall eines Priesters, der über Jahre hinweg 90 Kinder sexuell missbraucht hatte, öffentliches Entsetzen aus. 1997 übernahm die irische Regierung die Verantwortung für systematische Missbräuche, wegen der engen Verflechtung von Staat und Kirche in Irland. 

Bekannt sind insbesondere Berichte aus katholischen Kinderheimen. 2002 wurde auf Druck staatlicher Verantwortlicher eine offizielle Untersuchung durchgeführt. Weitere Untersuchungen zu Bistümern und Heimen folgten.

Deutschland : 2002 reagierten die deutschen Bischöfe auf die Skandale in den USA und Irland: Sie erliessen Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger. Doch erst nach den Enthüllungen am Canisius-Kolleg in Berlin überprüften die Bistümer ihre Archive und Personalakten.

2014 wurde eine  unabhängige Studie  in Auftrag gegeben. Für die Jahre 1946 bis 2014 konnten 1’670 Beschuldigte identifiziert und 3'677 Betroffene gefunden werden. Einzelne Bistümer gaben zudem bistumsspezifische Studien in Auftrag. 

Frankreich : 2016 wurden mehrere Missbrauchsfälle bekannt. Ins Blickfeld geriet der Erzbischof von Lyon, Kardinal Philippe Barbarin, der Übergriffe des Priesters Bernard Preynat vertuscht haben soll. 

Nach Bekanntgabe der «Preynat-Barbarin-Affäre» gaben die Bischöfe und die Konferenz der Ordensgemeinschaften 2018 eine  unabhängige Studie  in Auftrag. Darin ist von rund 330'000 Betroffenen und 2'900 bis 3'200 Beschuldigten die Rede. 

Portugal : 2021 gaben die Bischöfe eine unabhängige Studie in Auftrag, die dieses Jahr veröffentlicht wurde. Seit 1950 soll es mehr als 4'800 Fälle von sexuellem Missbrauch durch Kleriker und kirchliche Angestellte gegeben haben. 

Italien:  2022 publizierte die Betroffenenorganisation «Rete l’ABUSO» einen Bericht. Eine unabhängige Studie fehlt.

Polen : Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist kaum vorhanden. Bislang gibt es keine breit angelegte unabhängige Studie.

Spanien : Auch in Spanien gibt es bislang keine systematische Aufarbeitung. Die römisch-katholische Kirche weigert sich, die Medien machen jedoch auf Fälle sexuellen Missbrauchs aufmerksam. Die Zeitung «El Pais» sammelt sie seit 2018 und kommt auf knapp 1’000 Fälle.

Wie arbeiten andere Länder auf?

Wie weiter nach den Enthüllungen über Missbrauch in der katholischen Kirche?

Nach der Veröffentlichung der Studie über die Missbrauchsfälle haben katholische Vertreter aus allen Landesteilen Stellungnahmen abgegeben. Diese reichen von Entschuldigungen hin zur Ankündigung, Strafanzeige gegen Verdächtige einzureichen. 

Ermittlungen gegen Kirchenvertreter bereits vor Veröffentlichung der Studie eingeleitet

Nur zwei Tage vor der Veröffentlichung des Berichts kündigte die Schweizer Bischofskonferenz eine vom Vatikan angeordnete Untersuchung gegen hochrangige katholische Kleriker in der Schweiz in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch an. Es hiess, es gebe Anschuldigungen gegen mehrere aktive und pensionierte Bischöfe sowie andere Geistliche wegen ihres Umgangs mit Missbrauchsfällen.

Ihnen wird vor allem vorgeworfen, Missbrauchsfälle vertuscht zu haben. Auch gibt es Anschuldigungen, dass Einige in der Vergangenheit selbst sexuelle Übergriffe begangen haben. Medienberichten zufolge erhielt der Vatikan im Mai einen Brief mit den Vorwürfen und ernannte daraufhin den Schweizer Bischof Joseph Bonnemain zum Untersuchungsleiter.

Nach der Veröffentlichung der Studie über die Missbrauchsfälle haben hochrangige katholische Vertreter aus allen Landesteilen Stellungnahmen abgegeben. Diese reichen von Entschuldigungen hin zur Ankündigung, Strafanzeige gegen Verdächtige einzureichen. 

"Als kirchliche Institutionen tragen wir eine grosse Verantwortung", so die Schweizer Bischofskonferenz. Die Verantwortlichen müssten sich "dieser Schuld stellen" und die notwendigen Konsequenzen ziehen, fügte sie hinzu.

"Wir setzen uns für einen Kulturwandel innerhalb der Kirche ein", erklärte Charles Morerod, Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg. Er befürwortet Reformvorschläge wie neue institutionelle Strukturen für die Meldung von Fällen, psychologische Kontrolle von Priesteramtskandidaten und ein Verbot der Vernichtung von Dokumenten über Missbrauchsfälle.

Morerod und Jean-Marie Lovey, der derzeitige Bischof von Sitten, werden beschuldigt, bei angeblichen Missbrauchsfällen nicht eingeschritten zu sein oder diese nicht verfolgt zu haben. Beide schliessen einen Rücktritt nicht aus. 

Härteres Vorgehen und Änderungen beim Priesteramt

"Wir sagen ihnen seit zehn Jahren, dass sie etwas gegen die Täter unternehmen sollen, und nichts hat sich getan. Man müsste den Opfern jetzt eigentlich sagen können 'ja, es gab Missbrauch und wir werden ihn bestrafen'. Aber die Kirche sanktioniert ja im Moment niemanden", sagte Sylvie Perrinjaquet, Präsidentin der CECAR, einer unabhängigen Kommission für sexuellen Missbrauch, gegenüber dem Westschweizer Fernsehen RTS.

Jacques Nuoffer, Vorsitzender der Schweizer Opferhilfegruppe SAPEC, beklagt, dass die Struktur der Kirche "ein Problem darstellt und alles verlangsamt". "Jeder Bischof ist unabhängig und hat die ganze Macht", sagte er.

Um die internen Abläufe zu verändern, sollte den Laien innerhalb der Kirche mehr Autorität verliehen werden, meint Laurent Amiotte-Suchet, Religionssoziologe an der  Waadtländer Hochschule für Gesundheit. Es sei wichtig, dass die Forderungen der Basis die "Spitze der Pyramide" erreichen, um die Institution so zu verändern, sagte er gegenüber RTS.

"Wir sollten auch versuchen, den Priester wieder zu einem normalen Menschen zu machen", fügt er hinzu.

Nuoffer von der Schweizer Opferhilfegruppe hofft, dass religiöse Schulen und Klöster die Opfer nun ermutigen, sich zu melden und Fälle von "inakzeptablem Verhalten" anzuzeigen. Er wünscht sich auch die Einrichtung einer nationalen Hotline für Opfer sowie mehr Mittel für die Erforschung der rechtlichen, psychologischen und soziologischen Aspekte, um das Problem des Missbrauchs innerhalb der Kirche weiter anzugehen.

Er räumt jedoch ein, dass das noch viel Arbeit bedeutet. "Die psychologischen Tests von Priestern wären ein Schritt in die richtige Richtung", sagte er gegenüber RTS. "Die von der Schweizerischen Bischofskonferenz angekündigten Massnahmen müssen konkretisiert werden. Im Moment sind es nur Worte. Wir müssen abwarten, was passiert. Dann können wir Dinge klarer und effektiver angegangen werden. Unterdessen ist auch klar, dass es neue wissenschaftliche Untersuchungen geben wird. Den Forschenden der Universität Zürich wurden weitere 1,5 Mio. CHF für die Fortsetzung der Studie bis 2026 zugesagt.

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