Traditionen sind Teil unserer Identität. Beides beeinflusst einander. Wie wir unsere Identität verstehen, hat die SRG kürzlich untersucht. Die Resultate sind teils überraschend.

Als am traditionellen Chalandamarz-Umzug dieses Jahr plötzlich auch Mädchen teilnehmen durften, machte das über die Landesgrenzen hinaus Schlagzeilen. Noch mehr zu reden gaben gendergerechte Jasskarten und die Frage, ob dieses Schweizer Kulturgut im Jahr 2023 ein Update brauche. Müssen sich Traditionen also anpassen, um mit der Zeit zu gehen oder geben wir ein Stück weit unsere Identität auf, wenn wir sie zu sehr verändern? 

Dazu lohnt ein Blick in eine der grössten Umfragen, die es in der Schweiz je gegeben hat. Das Forschungsinstitut GFS Bern hat dieses Frühjahr im Auftrag der SRG über 57'000 Menschen befragt, unter anderem zur Schweizer Identität. Die Antworten zeigen: Schweizer Identität besteht gemäss einer klaren Mehrheit der Befragten nicht nur aus Dingen, die in der Tradition verwurzelt sind. Sie ist etwas, das mit der Zeit gehen und sich neuen Bedingungen anpassen kann.

So findet eine Mehrheit, für die Schweizer Identität sei es nicht entscheidend, ob man hier geboren wurde. 54 Prozent finden, das sei eher bis sehr unwichtig. Viel wichtiger als ihre Herkunft ist, wie sich die Menschen verhalten: Schweizer Institutionen und Gesetze zu respektieren oder eine Landessprache zu sprechen, finden 96 respektive 95 Prozent sehr oder eher wichtig für die Schweizer Identität.

Auch sollte man etwas über Kultur und Geschichte wissen, sagt eine Mehrheit. Ob man einer Landesreligion angehört, ist dagegen für gerade einmal 25 Prozent der Befragten relevant, damit jemand ihrer Meinung nach eine Schweizer Identität hat.

Bei der Frage, wie wichtig der Geburtsort für die Schweizer Identität ist, zeigt sich ein starker Kontrast zwischen der italienisch- und der französischsprachigen Schweiz: Im Tessin halten 34 Prozent den Geburtsort Schweiz für sehr wichtig für die Identität, in der Westschweiz finden das nur neun Prozent. In der Deutschschweiz halten das 21 Prozent für sehr wichtig.

Auch Einwanderer können schweizerisch sein 

Eine entscheidende Rolle für die Schweizer Identität spielt in den Augen der Befragten die direkte Demokratie, also eine der grossen politischen Traditionen des Landes. 98 Prozent finden, sie sei für die Schweizer Identität von zentraler Bedeutung. Auf der anderen Seite sind aber auch 64 Prozent mit der Aussage einverstanden, Einwanderer könnten ihre Werte beibehalten und trotzdem schweizerisch sein.

Fragt man die Menschen, wie es um ihre eigene Identität bestellt ist, zeigt sich ein klares Bild: Drei Viertel bezeichnen sich als ziemlich bis völlig schweizerisch. Hingegen sagt kaum jemand von sich, «unschweizerisch» zu sein.

In diesem Zusammenhang mag auch nicht überraschen, dass 76 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen: «Die Schweiz ist das beste Land der Welt, in dem man leben kann!» 

Wer sind wir?

Rituale am 1. August: "Ich sage ja nicht, dass alle Politiker Pfarrer sind" 

Nationalstaaten entkommen der Macht der Religion auch dann nicht, wenn sie Kirche und Staat radikal trennen – denn sie sind auf Rituale und Glauben angewiesen. Der Zürcher Religionswissenschaftler David Atwood im Gespräch über Höhenfeuer, Lampions und Bundesrats-Schwüre.

SWI swissinfo.ch: Am 1. August entfacht die Eidgenossenschaft wie jedes Jahr grosse Feuer und huldigt der Nation. Das hat etwas Archaisches, denken Sie da als Religionswissenschaftler nicht auch an einen Hexensabbat?

David Atwood: Naja, an ein okkultes Ritual denke ich da nicht gerade. Aber natürlich: Feuer sind in Ritualen vermutlich schon seit der Steinzeit wichtiger Bestandteil.

Als der 1. August als Neuerfindung Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, hat man verschiedene Dinge kombiniert. Vorbilder für die 1.-August-Feuer sind wohl die Höhenfeuer, die in den Alpen eine jahrhundertealte Tradition haben.

Später kamen die Lampions hinzu, ein Import aus Asien. Traditionen sind ja meistens das kreative Resultat von kulturellen Übernahmen.

Was hatten die ursprünglichen Höhenfeuer für eine Funktion?

Einerseits wurden sie zur Kommunikation verwendet: Man zeigte verwandten Kleingruppen, wo man gerade ist oder ob Gefahr droht.

Sie waren eine Form von Kommunikation von Stammesgesellschaften?

Genau. Andererseits hatten sie eine Schutzfunktion und sollten böse Geister bannen. Wobei gerade Aussagen über diese Frühphase der Menschheit spekulativ sind, und es auch andere Theorien über ihre Entstehung gibt.

Neben den Feuern schwenkt man Flaggen mit Schweizerkreuz. Ist das weisse Kreuz auf rotem Grund mittlerweile von jeder religiösen Bedeutung entkleidet?

Es ist ein christliches Symbol, das man aber zu einem nationalstaatlichen Symbol umgeformt hat.

Die alten Eidgenossen verglichen sich ja gerne mit dem Volk Israel, wie es in der Bibel, in der Genesis beschrieben ist. Auch sie sahen sich als auserwähltes Volk. Was für eine Rolle spielt das für die Nationsbildung?

Das war in der Neuzeit eine sehr erfolgreiche Idee. Der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger hat auch behauptet, die Schweiz sei das auserwählte Volk Gottes.

Die Eidgenossen sahen sich als das Volk, das die Berggegenden und damit den Übergang zwischen Nord -und Südeuropa christianisiert und sozusagen das Tor für den Vatikan in Richtung des germanisch-heidnischen Nordens geöffnet hatte.

Intellektuelle in umliegenden Ländern stellten diese göttliche Sonderstellung des Schweizer Volkes in Abrede – aber die Schweiz war auch nicht das einzige Land, das solches proklamierte.

In den USA ist die Auserwähltheit nach wie vor Teil der nationalen Rhetorik. In der Schweiz verschwand das dann im 17. Jahrhundert, mehr oder weniger.

Die Französische Revolution stellte sich in klare Konkurrenz zur Religion: Man strich z.B. das "Saint" in Strassennamen. Inwiefern ist diese Konkurrenz zwischen Staat und Religion grundlegend für demokratische Staaten?

Diese Konkurrenz wird bereits bei den Kirchenvätern angelegt, Augustin spricht schon im 4. Jahrhundert nach Christus von zwei Reichen. Er fragt sich: Wie gehen Christen mit dem römischen Staat um? Was gibt man dem Kaiser, was Gott? Ähnliche Fragen kommen auch im 30-Jährigen Krieg auf, wo es um die Konfessionskonflikte geht.

Aber in der Französischen Revolution werden zum ersten Mal Teile des Staates selbst als heilig beschrieben. So hat man nicht nur die Heiligen aus den Strassennamen gestrichen, sondern aus den Kirchen "Tempel für die Vernunftsgöttin" gemacht.

Der Genfer Philosoph Jean Jacques Rousseau beschrieb das als "Zivilreligion": Was meinte er damit?

Am Schluss seiner Überlegungen zum Gesellschaftsvertrag kommt er zur Frage, wie Individuen zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, mit ihren unterschiedlichsten Ansichten – wie kriegt man das hin? Rousseau sah eine Religion der Bürger:innen als Antwort. Jede:r muss gewisse Glaubenssätze mittragen.

Den Glauben an die Verfassung beispielsweise. Die steht für Rousseau auch über der individuellen Religion. Zunächst sollen Staatsangehörige für Rousseau Verfassungsgläubige sein, erst in zweiter Linie haben sie eine Religionszugehörigkeit.

Staaten können durchaus zu totalitären Gebilden werden, die ihre Bürger:innen dazu zwingen, bestimmte Sachen zu glauben und mitzutragen, also jenseits des Rechtsstaats eine homogene Identität zu pflegen. Damit meine ich nicht theokratische Staaten wie den Iran, die im Namen einer bestimmten Religion totalitär werden.

Ich meine Staaten wie Deutschland im Nationalsozialismus, in denen staatliche Mythen und Rituale eine enorme Rolle erhalten. Die Fackelmärsche der Nazis sind für mich so ein Beispiel – da haben Sie auch wieder das Feuer.

Ich denke aber, es ist wichtig zu sehen, dass dieses zivilreligiöse Element in allen Staaten irgendwo vorhanden ist. Die Konkurrenz von Kirche und Staat hat uns verlernt zu sehen, dass Religion nicht nur bei den Kirchen auftaucht, sondern auch im Staat. Das heisst ja nicht gleich, dass alle Politiker:innen eigentlich Pfarrer:innen sind.

Wo sehen Sie diese Zivilreligion in der Schweiz?

In der 1. August-Rede beispielsweise. Jedes Jahr beantworten Politiker:innen die Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Sie entwerfen einen nationalen Mythos – nicht im Sinne einer falschen Geschichte, sondern im Sinne eines Bilds der Schweiz, in der wir leben wollen.

Das ermöglicht auch Gegenentwürfe, wie sie zum Beispiel das Institut für eine Neue Schweiz entwirft: Was ist eine postmigrantische Schweiz?

Wenn wir Religion als die gesellschaftliche Formierung von Mythen über Rituale verstehen: Ja. Auch in Nationalstaaten braucht es Inszenierungen, um Legitimität und Glaubwürdigkeit zu erzeugen.

Ideen entfalten ihre Wirkmächtigkeit dadurch, dass wir auf Plätzen in einer Masse stehen, dadurch bemerken wir, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind. Gemeinschaften sind auf dieses inszenierte Moment angewiesen.

Schauen Sie sich mal die Amtseinführung von Bundesrät:innen an –  da muss ein Eid geschworen werden. Man wird durch diesen Eid zu einer anderen Rechtsperson, einer Frau Bundesrätin oder einem Herrn Bundesrat. Das muss rituell übergeleitet werden.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben sagt, dass jeder Eid, jeder Schwur ein religiöser Akt ist, in dem wir bezeugen, dass das, was wir gerade sagen, wahr ist. Wenn ich jetzt lüge, dann kann ich dafür bestraft werden. Der Eid ist ein typisches Beispiel für dieses rechtlich-religiöse Gemisch – und die Schweiz nennt sich ja auch "Eid"-Genossenschaft.

Der 1. August als Nationalfeiertag

Gender-Glocken, Gender-Glocken, die in den Alpen läuten

Das Schweizer Kinderbuch "Schellen-Ursli" machte das traditionelle Frühlingsfest "Chalandamarz" weltberühmt. In den Schweizer Alpen schwelt nun eine Kontroverse, denn selbst in den letzten Hochburgen des Brauchs dürfen nun auch Mädchen mitmachen. SWI swissinfo.ch besuchte Zuoz, ein Dorf im Spannungsfeld zwischen Tradition und Genderfragen.

Es ist das typische Schweizer Bergdorf, wie es sich die Ausländer vorstellen. Massive Steinhäuser mit kunstvoll bemalten Wänden säumen die Strassen von Zuoz, einem Dorf in der Hochtalregion Engadin in den Ostschweizer Alpen. Auf dem Hauptplatz mit dem Schulhaus und dem Rathaus steht ein mit Blumen geschmückter Springbrunnen. Und oberhalb des Dorfes befindet sich das international bekannte Internat Lyceum Alpinum.

Doch die Idylle ist trügerisch. Seit fast einem Jahr ist das Alpendorf von Unruhen heimgesucht worden. Die Ursache ist ein Kulturkampf zwischen Tradition und Geschlechterpolitik - ein Konflikt, der rund um den Globus ausgetragen wird. In Zuoz geht es um nichts Geringeres als den bekanntesten Brauch des Engadins, den Chalandamarz, bei dem die Jungen jedes Jahr am 1. März mit Glockengeläut und Gesang durch das Dorf ziehen, um den Winter zu vertreiben.

Nur die Jungs - bis heute. Und genau da lag das Problem.

Chalandamarz wurde dank des illustrierten Kinderbuchs Schellen-Ursli einem weltweiten Publikum bekannt. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, 1945, erschienen, hat sich die Geschichte mit ihren ikonischen Bildern im Laufe der Jahrzehnte zum zweiterfolgreichsten Kinderbuch der Schweiz entwickelt - nur übertroffen von Heidi. Es wurde in acht Sprachen übersetzt, darunter Englisch, Japanisch und Chinesisch.

Die Geschichte handelt vom kleinen Ursli, der nur eine kleine Ziegenglocke für den Chalandamarz bekommen hat. Die anderen Jungen im Dorf machen sich deswegen über ihn lustig. Das hat zur Folge, dass Ursli am Ende des Kuhglockenumzugs laufen muss - eine Schmach, die er nicht akzeptieren kann. So kämpft er sich durch den tiefen Schnee zur Almhütte der Familie, wo eine riesige Kuhglocke hängt. Am nächsten Tag kehrt er damit ins Dorf zurück und darf nun die Prozession anführen, weil er die grösste Glocke hat.

Es ist eine Emanzipationsgeschichte mit männlicher Besetzung. Ursli hat auch eine Schwester, Flurina, aber wie alle anderen Mädchen im Dorf darf sie nicht an der Prozession teilnehmen. In den 1940er Jahren hat diese Geschlechtertrennung wahrscheinlich niemanden gestört. In Zuoz, wo die Tradition jahrelang unangetastet blieb, hat das Thema nun eine Kontroverse ausgelöst.

Auslöser war eine Initiative des Gemeinderats, den Brauch zu öffnen. Die Idee war, dass die Mädchen völlig gleichberechtigt behandelt werden sollten - das heisst, sie sollten auch an der Prozession teilnehmen, mitsingen und blaue Bauernkittel und rote Quastenhüte tragen, genau wie die Jungen.

Dies gebietet nicht zuletzt der in der Bundesverfassung verankerte Gleichheitsgrundsatz, der für alle Schulen in der Schweiz verbindlich ist. In Zuoz, das diese Tradition so ernst nimmt wie kaum ein anderes Engadiner Dorf, ist der Chalandamarz ein obligatorischer Bestandteil des Schuljahres.

Doch die Revolution stiess auf Widerstand. Die Abstimmung an der Gemeindeversammlung im vergangenen Juni hat den tiefen Graben, der das Dorf durchzieht, deutlich gemacht. Während sich vor allem viele Frauen für die Teilnahme von Mädchen aussprachen, erklärte ein Wähler, dass Chalandamarz für ihn nicht mehr dasselbe sei. Jemand anderes schlug vor, die Mädchen auf andere Weise einzubeziehen: "Sie könnten zum Beispiel den Festsaal schmücken."

Der Bürgermeister sah sich gezwungen, spontan zu handeln und zog den Vorschlag zur erneuten Prüfung zurück. Die Kontroverse blieb jedoch bestehen. Es sei ein Thema, das man bei den Familienmahlzeiten am besten vermeide, erzählte ein Bewohner bei einem Besuch von SWI swissinfo.ch im Spätsommer 2022. Sie selbst sei für die Revision, sagte sie. Andere wiederum, darunter auch einige Frauen, schüttelten nur den Kopf. Es sei undenkbar, dass Engadiner Gepflogenheiten von Gender-Aktivisten aus dem Unterland über den Haufen geworfen würden, hiess es.

Mischa Gallati, Kulturwissenschaftler und Dozent an der Universität Zürich, ist nicht überrascht über die Skepsis, die in Zuoz herrscht. Die Tradition stammt aus einer Zeit, in der die Gesellschaft klar nach Geschlechtern gegliedert war. Würde man das Ritual ändern, würde auch diese Dualität in Frage gestellt werden. "Das hat mit Ängsten zu tun. Es gibt eine Abwehrhaltung, ein Zurückfallen auf traditionelle Muster", sagt er.

Dies sei jedoch nur ein Aspekt des Streits, so Gallati. Die Meinungsverschiedenheiten in der Stadtverordnetenversammlung zeigten, dass das ganze Thema auch eine Stellvertreterdebatte war. "Der Brauch hat seine Schattenseiten. Es geht immer auch um Ausgrenzung, darum, wer Macht hat und wer dazugehört".

Wie in vielen Schweizer Bergdörfern stehen sich auch in Zuoz Einheimische und Zugezogene gegenüber. Diese Konfrontation wird noch dadurch verschärft, dass die Sprache, die hier gesprochen wird, Rätoromanisch ist, eine Schweizer Landessprache, die von etwa 50'000 Menschen gesprochen wird. Viele der Neuankömmlinge machen keine Anstalten, es zu lernen.

Trotz des Widerstands geht Gallati jedoch davon aus, dass sich der Brauch ändern wird, wie es in anderen Dörfern in der Nähe bereits geschehen ist. Bräuche sind ein Instrument der Selbstbestätigung, erklärt er. Chalandamarz geht auf eine Agrargesellschaft zurück, in der der Ablauf der Jahreszeiten eine zentrale Rolle spielte. "Diese Rituale wurden um dieses Thema herum aufgebaut, und jetzt werden sie mit neuen Inhalten aufgeladen", sagt er.

Andrea Könz sieht den Wandel eher kritisch. Sie ist die Witwe von Steivan Liun Könz, dem Sohn der Autorin von Schellen-Ursli. Natürlich müssen sich Traditionen weiterentwickeln, stimmt sie zu, "aber mein Hauptkritikpunkt an der Modernisierung ist, dass die Symbolik hinter dem Brauch nicht mehr verstanden wird". Chalandamarz ist ein Fruchtbarkeitszyklus, erklärt sie, und die grossen Glocken haben eine phallische Konnotation. "Macht es also Sinn, sie den Mädchen anzuziehen?"

Könz sieht in der Zuoz-Debatte auch einen Kulturkonflikt. Es waren die Mütter aus dem Flachland, die auf die Gleichberechtigung in den Bergdörfern drängten, sagt sie. "Sie sahen nicht ein, warum ihre Töchter aussen vor gelassen werden sollten." Es sind ihre Forderungen in ihrer Gesamtheit, die Könz stören. Auch ihre Tochter wollte in dem Dorf Guarda, in dem sie lange Zeit lebten und in dem auch Schellen-Ursli spielt, an Chalandamarz teilnehmen.

Das war in den 1990er Jahren. Wie andere Engadiner Gemeinden diskutierte auch Guarda vor einigen Jahren über die Aufnahme von Mädchen. "Aber die Gender-Debatte war damals nicht so verrückt wie heute", sagt Könz.

Ihrer Meinung nach wird Vielfalt zu oft mit Äusserlichkeiten in Verbindung gebracht, und Gleichheit wird mit Uniformität verwechselt. In vielen Dörfern hatten die Mädchen ihre eigene Rolle in dem Ritual. Hier sieht sie eine Möglichkeit, den Brauch zu erneuern, ohne ihn zu verraten. "Es geht also darum, die Rolle der Mädchen nicht einfach als unbedeutend abzuwerten, sondern ihr die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken", sagt sie.

Zuoz wählte einen Weg aus dem Dilemma, der sowohl schweizerisch als auch unschweizerisch ist. Im Jahr 2023 nahmen zum ersten Mal auch Mädchen an der Prozession teil, die wie die Jungen gekleidet waren, aber keine Glocken trugen.

Ein Ausschuss, der vom Gemeinderat mit der Lösung des Problems beauftragt wurde, hat diesen Kompromiss selbst gefunden. Die Entscheidung wurde nicht der Gemeinschaft vorgelegt, sondern - untypisch für die Schweiz, die als direkte Demokratie funktioniert - den Tatsachen vor Ort überlassen.

Laut Ramun Ratti, Vizepräsident und Interimsbürgermeister von Zuoz, war die "grosse Mehrheit der Gemeindemitglieder" damit einverstanden, dass auch Mädchen teilnehmen sollten. Mit dem neuen Stil des Brauchs sollte nun wieder Ruhe im Dorf einkehren.

Chalandamarz ist wichtig für den Zusammenhalt und die Identifikation, betont Ratti. Er spürt auch den Druck aus dem Flachland. "Wenn man sich das Gesamtbild ansieht, sind wir in der Minderheit.

Ratti ist der festen Überzeugung, dass die Gender-Debatte angegangen werden muss. "Aber es ist wichtig, die Tradition sorgfältig zu entwickeln. Das war schon immer der Fall, erklärt er. "Die blauen Kittel und die roten Mützen wurden in Zuoz erst nach dem Krieg hinzugefügt."

Ausserdem hat sich der Zweck der Tradition geändert, sagt er. "Früher gab es eine Verbindung zu den Söldnern: Sie vertrieben nicht nur den Winter, sondern boten den Jungen auch die Gelegenheit, sich im Dorf zu präsentieren."

Heute, sagt er, ist die Veranstaltung hauptsächlich für Kinder. Das hat sein Denken vielleicht am meisten beeinflusst. "Meine Tochter hat sich sehr darauf gefreut, mitzumachen", sagt er.

Schellen-Ursli und Schellen-Ursina?

"Wir nennen sie jetzt Macho. Es ist eine Schande."

Matthias Hug

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Anfang Januar 2022 lehnte die Schützengesellschaft von Payerne die Aufnahme von Frauen ab. Aber es ist nicht die einzige nicht gemischte Gesellschaft oder die einzige nicht gemischte Vereinigung. Ist das ein Problem in einer Zeit, in der immer mehr über Gleichberechtigung gesprochen wird? Ein Bericht von RTS.

Das Thema sorgte Anfang 2022 in der Waadtländer Stadt Payerne für Aufsehen. Mit 440 Nein-Stimmen und 203 Ja-Stimmen lehnten die Mitglieder dieser historischen Gesellschaft den Zugang für Frauen ab. Die traditionelle Tirage wird für Männer beibehalten. Innerhalb der Fédération des abbayes vaudoises ist diese Bruderschaft eine von 81, die ausschließlich männlich sind, gegenüber 94 gemischten.

In einem lokalen Restaurant ist das Thema in aller Munde. Für dieses Mitglied ist nicht das Schiessen das Problem, sondern vielmehr die anschliessende Party. "Das sind einfach Jungs, die Jungs sind. Das passiert nur einmal im Jahr. Triffst du dich nicht gerne mit Freunden?"

"Schiessen ist nur ein Vorwand. Ich habe nichts gegen Mädchen, die schiessen. Manche Leute schiessen viel besser als ich". Einer seiner Freunde fügt hinzu: "Frauen wären eine echte Spassbremse". Der Abtpräsident der Gesellschaft lehnte es auf Anfrage ab, die Abstimmung zu kommentieren.

Einige Stellungnahmen sind schwieriger zu erfassen. So wie dieser Mann, der die Gleichberechtigung befürwortet, aber nicht in Schwierigkeiten geraten will. "Ich bin empört. Wir nennen sie jetzt Macho. Es ist schade", sagt eine Frau aus Payerne, die auch der Meinung ist, dass die Mädchen das Thema vielleicht nicht "sehr diplomatisch" angesprochen haben.

Hinter dieser Integrationsinitiative steht eine Gruppe von 17 Frauen aus der Region: die Adélaïdes. "Es ist kompliziert, zu sagen, dass man nicht mitmachen darf, nur weil man eine Frau ist", erklärt Salomé Barth, 21, die zu diesem Kollektiv gehört.

In Payerne spaltet das Thema auch die Frauen. Die Mädchen der Jeunesse haben sich öffentlich von den Adélaïdes distanziert. "Sollen sie doch. Das ist das Einzige, was sie für die Jungs übrig haben", sagt eine Frau aus dem Ort, die mit einem Mitglied der Gesellschaft verheiratet ist. Sie glaubt nicht, dass Frauen in den nächsten zehn Jahren oder so integriert sein werden: "Ausserdem brauchen sie keine Frauen, um Plätze zu besetzen. Es gibt genug Mitglieder". Inzwischen hat die Gesellschaft fast tausend Mitglieder.

Es gibt auch Gruppen von Frauen, die beschliessen, unter sich zu bleiben. In Neuenburg, nicht weit von der Universität entfernt, finden Sie die Räumlichkeiten von Hétaïra. Eine 100%ige Studentinnenvereinigung. "Die Gründerinnen wollten ein Unternehmen mit eigenen Regeln und nicht in eine männliche Gesellschaft eingebettet sein", erklärt Vanessa Fernandes, die heutige Präsidentin.

Aber warum eine reine Frauengesellschaft gründen? "Wir schaffen einen 'sicheren Raum'. Ein Klima des Vertrauens. Wir sprechen offen über Frauenthemen. Der Nachteil ist, dass es keine männliche Sichtweise gibt.

"Wir fragen uns heute unweigerlich, ob sich Zofingia diesem gesellschaftlichen Wandel anpassen soll. Ich denke, wir werden uns in Zukunft auch für Frauen öffnen", erklärt Gesellschaftsmitglied Scott Greinig.

"Es gibt einen echten Unterschied zwischen der jüngeren und der älteren Generation", sagt Vincent Pheulpin, Präsident der Vieux-Zofingiens de Neuchâtel. Er befürchtet, dass die Mischung viele Traditionen in Frage stellen wird. "Männer verhalten sich nicht so, wenn eine Frau in der Nähe ist. Wir würden unsere Spontaneität verlieren". Beide sind sich einig, dass die Mitglieder noch nicht bereit sind, Frauen aufzunehmen.

"Wir nennen sie heute Machos"

Die besten Raclette-Käse kommen aus dem Wallis und aus Obwalden

Marco Morell

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Der Duft von Raclette umhüllte Morgins an diesem Wochenende. Der Walliser Ferienort war Gastgeber der ersten Raclette-Weltmeisterschaft, bei der 87 Käsesorten verkostet wurden. Die Gewinner wurden am Sonntag bekanntgegeben.

In der Kategorie Raclette aus roher Alpenmilch kam es zu einem Walliser Dreikampf. Es gewann der Käse der Alp Tanay in Vouvry (VS). In der Kategorie Rohmilchkäse ging der Titel an die Käserei Le Pont in Champéry (VS). In der Kategorie "andere Käsesorten" schliesslich wurde die Käserei Seiler Sélection by Wyssmüller Maître Fromager aus Giswil im Kanton Obwalden zum Sieger gekürt.

Damit ein Käse die Bezeichnung "Alp" tragen darf, muss die Milch auf der Alp erzeugt und verarbeitet werden. "Wenn eine der Bedingungen nicht erfüllt ist, verliert er die Ursprungsbezeichnung", sagt Laurent Ecoeur, Landwirt und Käser im Val-d'Illiez (VS) und Mitorganisator des Wettbewerbs.

Unter den 87 anwesenden Produzenten, von denen die meisten aus dem Wallis stammten, waren auch 16 aus dem Val d'Illiez. "Das zeigt, dass die Veranstaltung wirklich unterstützt wird", freut sich Christophe Berra, Chef des Organisationskomitees für diese erste Ausgabe.

Es gab auch Laibe aus Freiburg, Waadt, Neuenburg und der Deutschschweiz. Andere sind aus Frankreich, Italien und Belgien angeliefert worden sowie, was noch überraschender ist, aus Rumänien, Kanada und Grossbritannien.

Die Organisatoren hatten auch gehofft, Japan, Brasilien und Argentinien anzulocken, aber administrative Hürden und zu kurze Fristen haben ihre Pläne durchkreuzt. "Es wird eine weitere Ausgabe geben", versichert der Chef des Organisationskomitees.

Auf der Suche nach dem perfekten Raclette

Eine Jury aus 50 Fachleuten und Konsumenten sichtete die Käselaibe und nahm 20 Prozent davon in die engere Auswahl. Diese wurde dann von acht international renommierten Juroren bewertet: Laetitia Gaborit und Bernard Mure-Ravaud aus Frankreich, Philippe Moreau aus Belgien sowie Eddy Baillifard, François Raemy, Roger Dubosson, Andréas Leibundgut und Edith Beutler aus der Schweiz.

Farbe, Körper, Textur, Kraft, Aroma: nichts wurde dem Zufall überlassen. "Die Verkostung ähnelt einer Weinverkostung", sagt Christophe Berra.

"Wir beurteilen nicht den Käse, wir beurteilen das Raclette. Da die Käselaibe aus der ganzen Welt kommen, werden sie vakuumverpackt geliefert. Wir können darum das äussere Erscheinungsbild des Käses nicht beurteilen", ergänzt Laurent Ecoeur. Er fügt hinzu: "Das Bewertungsraster umfasst den ersten Eindruck, den das Raclette auf dem Teller hinterlässt, und den Gesamteindruck. Und dann ist da noch die Textur: Sie muss flüssig sein."

Hinter der Bühne, in einem separaten, für die Öffentlichkeit unsichtbaren Raum, waren ein Dutzend Schaber beschäftigt. Diese Freiwilligen hatten die schwierige Aufgabe, perfekte Raclettes herzustellen, vor allem mit der richtigen Temperatur und ohne verbrannte Stellen an der Oberfläche. Insgesamt 250 Personen halfen ehrenamtlich bei dieser Veranstaltungen mit.

Die Experten waren nicht die einzigen, die in den Genuss des Käses kamen. Auch die breite Öffentlichkeit konnte an Verkostungen, Workshops und anderen Aktivitäten teilnehmen.

Das Budget für diese erste Ausgabe der Veranstaltung belief sich auf 450'000 Franken. Finanziert wurde es von den Gemeinden des Tals, der Region Dents du Midi und von Sponsoren.

Weltmeisterschaft in Raclette

Podcast - Warum lieben wir in der Schweiz Käse so sehr?

In der Schweiz lieben wir Käse. Die beliebtesten heissen Appenzeller, Tilsiter, Tête de Moine, Emmentaler... Und wenn die US-Justiz sagt, dass unser Gruyère-Käse nicht in der Schweiz hergestellt werden muss, sind die Reaktionen heftig. Aber warum lieben wir in der Schweiz Käse so sehr?

Schweizer Käse ist beliebt. Im Jahr 2020 stieg der Pro-Kopf-Verbrauch in der Schweiz um 5,5 Prozent auf durchschnittlich 23,1 Kilo. Wie die Schokolade und die Uhren wird auch er in grossen Mengen exportiert: 77'000 Tonnen wurden ins Ausland verkauft, was einem Markt von rund 694 Millionen Franken entspricht. Ein Beweis für die Liebe der Schweizer zu ihrem Käse ist der Aufschrei über die jüngste Entscheidung eines US-Bundesrichters, der entschied, dass der Begriff Gruyère in den Vereinigten Staaten zu einem Gattungsbegriff geworden sei und daher nicht mehr für Produkte mit Ursprung in der Schweiz reserviert sei.

In Le Point J erklärt Jérémie Forney, Anthropologin und Dozentin an der Universität Neuenburg mit Spezialisierung auf Agrar- und Ernährungssysteme, die sich intensiv mit Milchprodukten beschäftigt hat, die Gründe für die bedingungslose Liebe zum Käse in der Schweiz, die zwischen dem Respekt vor dem Erbe der Vorfahren und der Zugehörigkeit zu einer nationalen Identität liegt.

Die Liebe zwischen der Schweiz und dem Käse hat eine lange Geschichte, die auf das Klima und die Topographie, aber auch auf soziale, kulturelle und historische Gründe zurückzuführen ist

Schweizer Käse und idyllische Darstellung der Alpweiden

"Die Schweiz ist aufgrund ihres Klimas und ihrer Topografie ein idealer Ort für die Milchproduktion", erklärt Jérémie Forney. Aber er glaubt, dass die Liebe zwischen der Schweiz und dem Käse auch auf sozialen, kulturellen und historischen Aspekten beruht. Und trotz des veganen Trends oder der Problematik der Tierhaltung "verbindet die grosse Mehrheit der Menschen das Bild des Schweizer Käses nach wie vor mit der idyllischen Darstellung von Bergweiden und glücklichen, freien Kühen auf den Weiden." Auch im Ausland bleibt das Image der Schweiz mit Käse verbunden, dank der Marketing- und Tourismusaktivitäten, die in vielen Regionen des Landes rund um diese Produkte entwickelt werden.

Heute gibt es in der Schweiz mehr als 1500 verschiedene Käsesorten, so Dominik Flammer, Journalist, Schriftsteller, Spezialist für die Geschichte lokaler Produkte und Autor des 2010 bei Glénat erschienenen Buches Fromages Suisses. In dieser Folge listet er auch die besten Sorten auf. Und die Liste ist lang, denn der Ruf des Schweizer Käses kommt von seiner hervorragenden Qualität.

>> Hören Sie sich die Episode von Point J an:

Sandro Bucher

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Davy Bailly-Basin und das Team von Point J

Warum lieben wir Käse?

Traditionen im Wandel: Gefahr oder Notwendigkeit?

Ein Muni für den Sieger: Tierschützer kritisieren Brauchtum

Im Schwingen ist es Tradition, dass die Sieger ein Tier bekommen. Tierschützer halten das für Quälerei.

Der Muni «Magnus» ist der Hauptpreis am ESAF in Pratteln. Eine imposante, kräftige Erscheinung. Rund eine Tonne bringt er auf die Waage, ist 1.80 Meter gross und gut 30'000 Franken wert.

Unter Schwingern ist es eine besondere Ehre, solch ein eindrückliches Tier zu gewinnen: «Für die meisten ist es ein Kindheitstraum, mit einem Muni seinen Sieg zu feiern. Es ist eine Ehre, so ein mächtiges, kräftiges Tier gewinnen zu dürfen», sagt Schwinger Marcel Räbsamen. Am Eidgenössischen in Pratteln stehen für die Sieger insgesamt elf sogenannte Lebendpreise bereit.

Das ist eine grosse Belastung für die Tiere. Darauf kann man sie nicht vorbereiten.

Kein Verständnis für diese Tradition hat Julika Fitzi-Rathgen von der Organisation Schweizer Tierschutz. «Das ist eine grosse Belastung für die Tiere. Auf den Lärm und die Situation in der Arena kann man die Tiere nicht vorbereiten», sagt die Leiterin der tierärztlichen Beratungsstelle beim Schweizer Tierschutz.

Lebendpreise seien schlicht nicht mehr zeitgemäss. «Da sind auch trächtige Tiere darunter. Wenn wir hier das Tierwohl und die Tradition einander gegenüberstellen, ist das ein No-Go.» Das gehe schon in den Bereich von Tierquälerei, so Fitzi-Rathgen. «Grundsätzlich denke ich, dass lebende Tiere keine Geschenke sein sollten.»

Diese Kritik will Urs Schneider nicht auf sich sitzen lassen. Er ist am ESAF für die Lebendpreise verantwortlich. «Wer die Tiere hier am ESAF beobachtet, merkt gleich, die sind nicht gestresst. Sie fressen, liegen, kauen ihr Futter. Ein gestresstes Tier würde sich anders verhalten», sagt Schneider.

Wer die Tiere hier am ESAF beobachtet, merkt gleich, die sind nicht gestresst.

Er sei sich seiner Verantwortung den Tieren gegenüber bewusst und tue alles für ihr Wohl. Sie würden rund um die Uhr von fünf Personen betreut. Ausserdem betont Schneider, dass die Lebendpreise ein wichtiger Bestandteil des ESAF  seien: «Wir sind überzeugt, das ist kein alter Zopf, sondern eine gelebte und schöne Tradition, die mehrere hundert Jahre alt ist.»

In der Schweiz sind Lebendpreise heutzutage weitgehend symbolischer Natur. Nicht einmal zehn Prozent von ihnen werden am Ende wirklich abgegeben. Da die Schwinger kaum mehr als Landwirte arbeiten, nehmen sie lieber den Gegenwert als Geld. 

So hat zum Beispiel auch Christian Stucki, Schwingerkönig am ESAF 2019 in Zug, den Siegermuni «Kolin», nicht nach Hause genommen. Trotzdem ist die Tradition unter den Schwingern beliebt.

Trotzdem ist das eine sehr schöne und wichtige Tradition, die wir weiter pflegen sollten.

«Meistens tauchen die Sieger den Lebendpreis gegen Geld ein. Trotzdem ist das eine sehr schöne und wichtige Tradition, die wir weiter pflegen sollten», sagt etwa Schwinger Kilian von Weissenfluh. Ähnlich sieht es Schwinger-Kollege Severin Schwander: «Es ist für jeden schön, einen Lebendpreis zu bekommen. Auch wenn es nur Prestige ist und sich die meisten am Ende damit einen Batzen auszahlen lassen.»

Ein Muni für den Sieger?

Wie Halloween Teil der Schweizer Kultur wurde

Der Schweizer Kalender ist voll von bizarren und oft erschreckenden Traditionen. Ist da noch Platz für Halloween? Ja, sagen begeisterte Kinder und Kürbisverkäufer. Einige Nachbarn und Kulturpuristen sind sich da weniger sicher.

"Süsses oder Saures!" "Des bonbons ou un sort!" Vor dreissig Jahren hätten die meisten Schweizerinnen und Schweizer keine Ahnung gehabt, was vor sich ging, wenn sie ihre Haustür geöffnet hätten, um ein paar achtjährige Kinder vorzufinden, die vollgezuckert und als Hexen oder Skelette verkleidet "Süsses oder Saures" schrien.

Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich Halloween, wenn auch nur schwach, im Schweizer Kulturleben etabliert. "Wie die Oktoberfeste, die nun auch in der Schweiz Stadt und Land berauschen", schrieb der St. Galler Tagblatt, das sich auf die deutschen Bierfeste bezieht.

"Kulturpessimisten sehen die heimischen Bräuche bedroht. Und vor allem evangelikale Christen lehnen Halloween ab, weil es um Okkultismus und Satanismus geht - ungeachtet der Tatsache, dass das Fest schon lange keine ernsthaften religiösen Züge mehr trägt und weitgehend kommerzialisiert ist. Nicht Theologen, sondern Volkskundler sind für Halloween verantwortlich, und Marketingexperten und Eventveranstalter für seine Verbreitung in unserem Land."

Die Entwicklung von Halloween ist undurchsichtig, aber vereinfacht gesagt, geht man davon aus, dass es auf heidnische keltische Traditionen zurückgeht, wie das alte gälische Fest Samhain, bei dem die Menschen Lagerfeuer anzündeten und Kostüme trugen, um Geister zu vertreiben.

Im achten Jahrhundert bestimmte Papst Gregor III. den 1. November als Tag zu Ehren aller Heiligen. Bald übernahm Allerheiligen einige der Traditionen von Samhain. Der Vorabend war als All Hallows' Eve und später als Halloween bekannt.  

Die massenhafte irische und schottische Auswanderung im 19. Jahrhundert führte dazu, dass Halloween in den Vereinigten Staaten Fuss fasste und schliesslich von Menschen aller sozialen, kulturellen und religiösen Schichten gefeiert wurde. Im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert hatte sich Halloween durch den kulturellen Einfluss der USA in vielen Regionen der Welt verbreitet, auch auf dem europäischen Festland.

Der Brauch hat sich von Frankreich aus in die Westschweiz und dann in die Deutschschweiz eingeschlichen, so der Volkskundler Konrad Kuhn, der bestätigt, dass Halloween vor Mitte der 1990er Jahre in der Schweiz kein Thema war.

Es dauerte ein paar Jahre, bis sich die grösseren Detailhändler und die Medien dafür interessierten, aber was Halloween in der Schweiz wirklich Auftrieb gab, war die gleichzeitige Entdeckung des Kürbisses durch die Bauern als neue Einnahmequelle, schreibt Kuhn in "Kürbis, Kommerz und Kult: Halloween und Kürbisfest zwischen Gegenwartsbrauch und Marketing", veröffentlicht in "Folklore Suisse" 2010.

Eine Pionierrolle spielten die mediengewandten Gebrüder Jucker aus dem Kanton Zürich, deren Bauernhof bald in der ganzen Schweiz für seine Kürbisse und Veranstaltungen wie die Rekorde für die grösste Kürbispyramide, die grösste Kürbissuppe, den schwersten Kürbis und so weiter bekannt wurde. Die Medien stürzten sich darauf, und unzählige Bauern folgten IHREM Beispiel und überschwemmten die Schweiz mit Kürbissen, die bis dahin nur spärlich verzehrt worden waren und nun die Küchen und Restaurants füllten.

Im Jahr 1991 wurden in der Schweiz 230 Tonnen Kürbisse verkauft. Im Jahr 2000 waren es rund 10'000 Tonnen, wie aus diesem Artikel von SWI swissinfo.ch aus dem Jahr 2001 hervorgeht.

"Die Juckers nutzten die traditionelle Novemberlücke im Eventbereich, so dass neben den grossen Einzelhändlern auch Freizeitparks, Gastronomiebetriebe und Kostümgeschäfte Interesse zeigten und hohe Umsätze erzielten", so Kuhn.

Es scheint jedoch, dass Halloween dann einen leichten Einbruch erlitt. Die Halloween-Verkäufe in den beiden grössten Supermärkten des Landes, Migros und Coop, sind 2007 drastisch zurückgegangen.

Gleichzeitig änderte sich die Medienberichterstattung über Halloween, so Kuhn. "Während es früher positive Berichte gab und Halloween es sogar ins Tagesfernsehen geschafft hatte, ging es jetzt vor allem um die Sachbeschädigungen, die in der Nacht von herumstreunenden Jugendlichen begangen wurden."

Die Lausanner Zeitung "Le Matin" schrieb 2021, die Polizei sei sich bewusst, dass kleine Monster für einen Abend genau das sein können: kleine Monster.

"In den letzten Jahren haben immer mehr Menschen die unangenehme Überraschung erlebt, dass Eier an ihre Hausfassade oder ihre Fenster geworfen wurden", so der Bericht. "Obwohl die Drohung 'Süsses oder Saures' eigentlich nur eine Drohung sein sollte, rächen sich manche Kinder tatsächlich an denen, die ihnen nichts geben oder ihnen die Tür nicht öffnen.

Am 31. Oktober bieten die Schweizer Warenhäuser "Halloween-Deals" an, in den Restaurants gibt es immer noch Kürbis und in den Kinos werden klassische Horrorfilme gezeigt.

"Das Spiel mit gruseligen Dingen findet in immer breiteren Kreisen Anklang", meinte der St. Galler Tagblatt. "Viele Leute haben Spass daran und veranstalten Halloween-Partys, bei denen sie als Zombies verkleidet mit einem Glas blutfarbener Flüssigkeit durch das Wohnzimmer laufen und Tortilla-Chips in Guacamole tunken, die sie aus einem Kürbis 'erbrochen' haben."

Auch wenn Halloween in der Schweiz bei weitem nicht so gross gefeiert wird wie in den Vereinigten Staaten, legen sich die Schweizer, die es feiern, richtig ins Zeug: Die Erwachsenen versuchen, sich gegenseitig mit beeindruckend gruseligem Make-up zu übertreffen.

Die Kostüme in den USA sind im Allgemeinen eher humorvoll oder satirisch, aber die Schweizer haben während der Karnevalszeit die Möglichkeit, Satire zu machen. Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass die Schweizer keine Fremden sind, wenn es um aufsehenerregende Bräuche geht, wie z. B. das Enthaupten einer toten Gans oder das Festhalten junger Mädchen und das Schminken mit schwarzem Gesicht:

Und wie Kuhn feststellte, finden sich Elemente von Halloween auch in anderen in der Schweiz weit verbreiteten Bräuchen wieder, wie die geschnitzte Rübe mit Kerze beim Räbeliechtli-Umzug, das Bitten an der Haustür beim Sternsingen oder die Elemente des Totengedenkens an Allerheiligen.

Ob Halloween in der Schweiz an Beliebtheit gewinnt oder verliert, ist schwer zu sagen. In einigen Vierteln werden gut organisierte Partys für Erwachsene veranstaltet, bei denen es von Skeletten und Hexen wimmelt. In den sozialen Medien können Eltern Karten erstellen, auf denen sie sehen können, welche Häuser Süssigkeiten anbieten.

Kuhn war jedoch zuversichtlich, dass die Tradition in irgendeiner Form fortbestehen würde. "Das Bedürfnis nach einem von Höhepunkten geprägten Jahreskreislauf besteht weiterhin, sodass davon auszugehen ist, dass Halloween [...] innovativ in die bestehende Brauchtumslandschaft integriert wird."

Der Kürbis, so fügte er hinzu, scheint auch seinen Platz jenseits der Halloween-Partys gefunden zu haben, indem er als Familie geschnitzt und dann zur Schau gestellt wird: "ein Familienbrauch in der dunklen Jahreszeit."

Ist Halloween Teil der Schweizer Kultur?

Ob Rivella, Ovomaltine oder Kägi Fret: Für nostalgische Expats ist es nicht leicht, an helvetische Fressalien zu gelangen. Deshalb haben Dominik und Manuel Huber ein Unternehmen gegründet, das jeden Monat Tausende von Schweizer Klassikern in die ganze Welt verschickt.

"Es gibt nichts Schöneres für mich, als an einem Rivella zu nippen und ein paar Schweizer Leckereien zu knabbern, um das Heimweh ein wenig zu lindern", sagt Expat Verena, die im US-Bundesstaat Kalifornien lebt.

Wie das visuelle Gedächtnis trägt auch der Geschmack aus der Kindheit dazu bei, dass man sich an seine Heimat erinnert. Aus nostalgischen Gründen, aber auch aus reiner Gaumenfreude nehmen Auslandschweizer:innen die Dienste von Swiss Food Box und My Swiss World in Anspruch. Zwei Namen für ein und dasselbe Unternehmen, das Dominik und Manuel Huber 2015 gegründet haben.

Damals war Dominik Huber selbst ein Expat: Er studierte in Kolumbien Wirtschaftswissenschaften und wollte ein Unternehmen gründen. Aber er suchte nach der zündenden Idee.

Sie sprang ihm ins Bewusstsein, als er eine Lindt-Boutique in Bogotá aufsuchte, um Schweizer Schokolade zu kaufen. "Es war ein tolles Gefühl, etwas aus der Heimat zu geniessen", erinnert er sich. Er dachte, dass es anderen Schweizer:innen im Ausland ähnlich ergehen müsste.

Huber hirnte und rechnete, suchte nach Infos und stellte schnell fest, dass noch kein Unternehmen in der Schweiz seine Idee umgesetzt hatte. Er entschied, zusammen mit seinem Bruder Manuel, der ausgebildeter Informatiker ist, eine Firma aufzubauen. Anfang 2016 lancierten sie dieSwiss Food Box.

Das Prinzip ist einfach: Drei Boxen mit verschiedenen Schweizer Leckereien (Schokolade, Süssigkeiten und Klassiker) werden im Monatsabonnement angeboten. 2020 wurde das Sortiment um eine vierte, personalisierbare Box erweitert.

Ebenfalls 2020 richteten Dominik und Manuel eine zweite Website namensMy Swiss Worldein, auf der man nach Belieben Schweizer Spezialitäten bestellen kann, ohne ein Abo abschliessen zu müssen.

Seither füllt sich einmal im Monat die Wohnung von Dominik Huber in Winterthur mit Kartons und Waren. "Deshalb habe ich auch nicht so viele Möbel", scherzt er.

Anschliessend werden rund 300 Bestellungen verschickt. Bei der letzten Lieferung des Jahres, wenn eine spezielle Weihnachtsbox ansteht, kann die Zahl auch mal auf 500 steigen. Am beliebtesten sei die Box zum Selberzusammenstellen, erklärt er. Es ist auch die teuerste.

Die Einzelbestellungen von My Swiss World werden hingegen wöchentlich verschickt. Pro Monat gibt es etwa 60 Bestellungen mit einem durchschnittlichen Warenwert von 90 Franken.

Etwa die Hälfte der Kund:innen lebt in den USA. Kanada, Australien, Neuseeland und Grossbritannien machen weitere 30 Prozent aus. Die restlichen 20 Prozent wohnen an verschiedenen europäischen Orten.

Dominik Huber führt diese Verteilung auf zwei Faktoren zurück: "Anfangs bewarben wir unsere Produkte vor allem auf Englisch, zudem zählen diese Staaten die meisten Schweizer Expats ausserhalb Europas. Hinzu kommt, dass es schwieriger wird, an Schweizer Produkte zu gelangen, je weiter man von der Schweiz entfernt lebt."

Swiss Food Box und My Swiss World haben keine Partnerschaften mit Marken oder dem Einzelhandel. Dominik Huber kauft in Geschäften für Grosskunden ein oder direkt bei Produzenten.

Und wenn es in Supermärkten Aktionen gibt, profitiert er davon. "Manchmal schaut mich das Personal komisch an, wenn es sieht, dass ich die Chips- oder Schokolade-Regale leerräume", erzählt er grinsend.

Die beiden Online-Shops bieten weder Fleisch noch Alkohol an, da diese Produkte in vielen Ländern, nicht eingeführt werden dürfen. Käse muss pasteurisiert sein. "Natürlich muss man auch auf das Haltbarkeitsdatum achten", sagt Dominik Huber.

Die Schweizer Food-Box-Anbieter zählen inzwischen zahlreiche treue Kund:innen. "Eine Frau, die in Chicago lebt, ist seit der ersten Box dabei", sagt der Chef nicht ohne Stolz.

Inzwischen kennt er viele. Zum Beispiel eine Frau in den USA, die immer wieder Ovomaltine-Produkte bestellt. Für Stammkundinnen und -kunden legt Dominik auch mal ein zusätzliches "Leckerli" bei. "Und wir gehen auf Sonderwünsche ein", sagt er. 

Die beliebtesten Produkte seien Senf, Paprika-Chips, Cailler-Schokoriegel mit Nusstücken und Mayonnaise. "Einer unserer Kunden in Kanada bestellt über die personalisierte Box nur Mayonnaise, das sind sicher 6 oder 7 Tuben pro Monat", sagt der Zürcher.

Heute lebt Dominik Huber von seinem Unternehmen. Sein Bruder hat eine beratende Funktion und arbeitet nebenbei. Ihr Vater unterstützt sie, seit er pensioniert ist. "Swiss Food Box ist ein kleines Familienunternehmen geworden", sagt er, "100 Prozent Do It Yourself".

Und das ist wahrscheinlich einer der Gründe für den Erfolg: Es ist ein überschaubares, flexibles Unternehmen, das seine Kundschaft kennt. Es verfügt weder über ein Lager, noch über Büros und wirbt zudem gezielt über soziale Netzwerke.

Auf die Frage, was er von der Konkurrenz halte, antwortet der Zürcher: "Wir sind in einem Markt tätig, der für die Grossen zu klein ist", und verweist auf den Swiss Authentic Shop der Post, der nur wenige Monate überlebt hat.

Heimweh nach Süssem

Von «Fuckbrett» bis Techno: Schweizer Volksmusik 2.0

Die einst als verstaubt geltende Schweizer Volksmusik ist seit Jahren auf dem Vormarsch. 2007 landeten der Jodlerklub Wiesenberg und Schlagersängerin Francine Jordi den Hit «Das Feyr Vo Dr Sehnsucht». 2021 gewann das Familien-Trio «Tüüfner Gruess» die TV-Show «Stadt, Land Talent». In den Schweizer Album-Charts belegen die Jodlergruppe «Heimweh» und das «Ländlertrio Rusch-Bueblä» Spitzenplätze.

Parallel zu diesem Aufschwung weht ein frischer Wind durch die Szene. Immer öfter wird mit aus der Volksmusik bekannten Instrumenten oder Besetzungen moderne Musik gespielt. 

Zudem werden vergessen gegangene, in der Schweizer Folklore einst verbreitete Instrumente neu entdeckt. Kannten Sie etwa die Hanottere?

Für viele ist Volksmusik noch immer der Soundtrack der SVP. 

Dieter Ringli, Volksliederforscher und Musiker, hat ein Standardwerk zur Schweizer Volksmusik verfasst. Er erklärt, dass die vermeintliche Urform – der Ländler mit Handorgel – relativ jung ist.  Nach einem Boom in den 1930- und 40er-Jahren entwickelte sich der Ländler nicht mehr weiter. Ringlis Fazit: «Für viele ist Volksmusik noch immer der Soundtrack der SVP.» 

Musiker, die wissen, wie moderne Volksmusik geht

Doch die Stagnation in der Schweizer Volksmusikszene gehört der Vergangenheit an. Das stellen verschiedene Persönlichkeiten der Schweizer Musikszene unter Beweis.

Ein prägender Volksmusikkomponist der Gegenwart ist Markus Flückiger. Mit seinem Schwyzerörgeli betritt der Virtuose seit Jahren immer wieder musikalisches Neuland. Seine Melodien tönen nicht nach gestern, sondern stossen auch bei der jüngeren Hörerschaft auf Anklang.

Ein weiterer Exponent der neuen Volksmusik ist Andreas Gabriel. Der Geiger lotet mit seinem Trio «Ambäck» die Grenzen der Volksmusik aus. Was Gabriels Spiel stets kennzeichnet: horrendes Tempo.

Volksmusik und Techno – beinahe verwandt

«Ambäck»-Bassist Pirmin Huber verkörpert die neue Offenheit der Schweizer Volkmusik. Er findet: «Techno und Ländler liegen sehr nah beieinander.» Den Beweis liefert seine Formation «Stereo Kulisse».

«Fuckbrett» heisst ein Album von Chris Pfändler. Der innovative Schweizer Hackbrettspieler fühlt sich nämlich auch im Rock und Heavy-Metal zuhause – also Musikstile, in denen man das altertümliche Instrument eigentlich nicht vermutet.  Ausserdem ist Pfändler fester Bestandteil der Pop-Combo «Kunz».

Lang ist die Liste jener, deren Schaffen den traditionellen Rahmen ausweiten. Zu den Innovatoren, ja gar Reformatoren, gehört auch Klarinettist Dani Häusler, bekannt aus zahllosen Auftritten bei «SRF bi de Lüt» und als Radio-Moderator der «SRF Musikwelle».

Für den Routinier mit über 30 Jahren Bühnenerfahrung zählen auch Nadja Räss (Jodel), Mathias Landtwing (Klarinette), Kristina Brunner (Schwyzerörgeli & Cello) und Fränggi Gehrig zur Fraktion der Neuerer – um nur ein paar Namen zu nennen. 

Schweizer Volksmusik als gegen jeglichen Fortschritt resistente Bastion? Von wegen! Immer wieder beweisen hiesige Formationen wie die «Kapelle Hütte-Höckler» mit kreativen Beiträgen, dass in der nationalen Musikszene von «Flasche leer» keine Rede sein kann.

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